Der Golem und das Judentum von Prag - Seite 2

Gegen das Vergessen

Gott-Adam, Sixtina, Rom

Die Einflüsse der Kabbala auf unsere moderne europäische Wissenschaft und Kunst.

An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass es in der jüdisch-kabbalistischen Denktradition von der jüdisch-christlichen doch recht abweichene Modelle gibt. Es gibt darin keine in sich abgeschlossene Schöpfung wie etwa im Christentum; sechs Tage plus Ruhetag und Schluss (Ruhe wovon und weshalb, da es ja auch am nächsten lousy monday nicht weitergeht). Ebenso wenig gibt es einen Adam Qadmon, ein Göttliches, das das Böse als Kehrseite in sich trägt und sich in einem ständigen Restitutionsprozess zur reinen Idee bzw. Wahrheit befindet.

Was aber schwerer noch wiegt, ist die Auffassung von Qliphoth (hebr. Schale, Hülle) als metaphorisch verhüllende Schalen um die Funken göttlicher Emenationen, wie sie in Phase zwei der Schöpfung auftreten und synonym sind mit unreinen geistigen Kräften und religiöser Unreinheit. Wird dem Göttlichen eine nicht monistische Wesenheit verliehen, also dem Göttlichen eine dazu im Gegensatz stehende, existente andere Seite (Sitra Achra) des Bösen unterstellt, dann wird Qliphoth eben synonym mit unreinen geistigen Kräften, Quellen von spiritueller, religiöser Unreinheit oder kurz gesagt, der Glaube daran synonym mit Götzendienst (Idolatrie).
Wenn Gott falsche dualistische, trinitäre oder mehrfache Wesenheit zugesprochen wird, dann ist nach jüdischer Lehre der christliche Glaube an einen dreieinigen Gott Götzendienst (Avoda sara). Hier trennen sich dann endgültig die Wege des Judentums und des Christentums.

Golem, Paul WegenerStark beeinflusst hat die kabbalistische Lehre die Philosophie der Neuzeit etwa bei Kant und besonders bei Hegel.
Auch in die Psychoanalyse hat sie hineingewirkt, vor allem bei Jaques Lacan.
Die Literatur – mit dem Mephisto in Goethes Faust angefangen –  hat seit Meyrinks Roman: Der Golem an diesem Stoff stark partizipiert und dann im Anschluss daran durch den Film Paul Wegeners: Der Golem, wie er in die Welt kam die gesamte Stummfilmwelt, die ihn zum Synonym für expressionistische plastische Filmarchitektur werden ließ.

Die Einflüsse und Querverbindungen zwischen den beiden aufkommenden Kulturerscheinungen der Psychoanalyse und des Films sind augenscheinlich, teils überraschend jedoch, wie nah sich beide stehen. Die Einheit von Bewußtsein und Unbewußtes, von Kultur und Rationalität und Triebhaftigkeit des Menschen, das Motiv des Doppelgängers und der Narzißmus können mühelos motivisch parallel-geführt werden mit Literatur und Film.

Wesentlich ist die Verwandschaft zwischen Psychoanalyse und Film aber auf der Ebene des Inhalts und damit von Sinn und Bedeutung. Übersetzt in die Sprache des Films kann man sagen, das Unbewußte (auch der Traum) gleicht den Bildfolgen und Kamerafahrten des modernen Stummfilms. Da gibt es keine traditionelle Erzählung mehr, eine Geschichte mit Anfang und Ende und dazwischen logisch nachvollziehbaren Handlungsfolgen, die eine Geschichte insgesamt mit Sinn und mehr oder weniger klaren Bedeutungen definieren.
Das Unbewusste erscheint nun wie eine lose, brüchige – heute würde man sagen: fraktale – Bildfolge, also von Gedanken, Vorstellungen und Phantasien, die wie im kabbalistischen Schvirat ha-Kelim von Trieben, Emotionen und Affekten „beschienen“ (besetzt) sind. Und die psychoanalytische Deutung gleicht einer Kamerafahrt entlang dieser seelischen Landschaften (dass hier sogleich der starke Einfluss auf die Kunst des modernen Expressionismus und anderer Kunstrichtungen bzw. Stile des 20. Jhs. ins Auge springt, ist evident).

Golem aus PolenIn der jüdisch-kabbalistischen Tradition haben viele Merkmale des Golems ihren Weg in die Kunst und die Wissenschaft des 20. Jhs. gefunden.
Z. B. das Motiv des Doppelgängers. In der Erschaffung des Golem wird der Mensch, das Geschöpf Gottes, selbst zum Schöpfer und partizipiert so am göttlichen Sein. Geschöpf und Schöpfer zugleich selbst zu sein haben in der Kunst, der Literatur sowie der Psychoanalyse seither eine große Rolle gespielt.
Die im Unbewussten verankerte oder auch generelle menschliche Kreativität machen den Menschen zum schöpferischen Menschen.

Ein anderes Merkmal ist die Sprache. Schon die mittelalterlichen Rituale, die sich um die Golemschöpfung bilden, sind hervorgebracht durch eine Art linguistischer Technik, durch Rezitationen von Kombinationen des hebräischen Alphabets. Besonders die Psychoanalyse von Freud bis Lacan sahen die Sprache bei der Menschwerdung, bei der Sozialisierung des Kindes als wichtigstes Element. Wie die Sprache im Ritual der Golemschöpfung wird bei den Psychoalalytikern dieses Ritual als die Einführung des Menschen in die Sprache interpretiert.
Golem, das Unfertige, kommt durch symbolische Operationen zum Sein, wie das nichtsprechende Menschenwesen (sujet enfants, Lacan), das auf besondere Art „golem“ ist, durch die symbolische Ordnung zum Subjekt, zum „Selbst“- bewußten Menschen wird.

Goya - der Schlaf der Vernunft gebiert UngeheuerAm radikalsten vertrat die strukturale Psychoanalyse von Lacan diese Position, die die genuine Spaltung des Menschen in ein „sprechendes Wesen“ und der Sprache insgesamt untersuchte und das Unbewusste „ist strukturiert wie eine Sprache“ (Lacan) verstand.

Sprache macht den Menschen zum „Doppelgänger“. Zuerst als Kleinkind im sog. Spiegelstadium, wenn das Kind beginnt (s)ein „Ich“ auszubilden. Schon von da an wirkt im kleinen Menschen eine narzisstische Geste der Allmachtsphantasie, in der sich ein „Größenselbst“ („Ideal-Ich“) zeigt, das fortan zur Matrix wird, auf die das Subjekt sein Ich orientiert, ohne es zu merken.
Zwischen Ohnmacht und Allmacht strebt es nun in einem ständigen Restitutionsprozess wie der Adam Qadmon in der zweiten Phase Qlīpōt; und nach Lacan ist Phase drei nicht in Sicht, die als Wiederholung, quasi als Wieder-Holung vergessener Geschichte, als unmittelbares Selbst in voller Präsenz zum Sein ohne Mangel zu sich kommt (wer’s glaubt, sitzt einem ordentlichen Phantasma auf).

Wie sehr diese kabbalistische Lehre Einfluss genommen hat auf die Künste und auf die Schriftsteller des 20. Jhs. lassen wir mal aussen vor. Eigenartig und deshalb hier festzuhalten aber gilt, dass je weniger die christliche Religionslehre noch an diese Traditionen erinnert und je mehr die jüdische Tradition auch aus unseren Straßen und Städten nach 1945 verschwunden ist, desto bedeutsamer wurde ihr Einfluss auf beachtliche Teile der Philosophie, die Kunst, die Musik, die Literatur, die Psychoanalyse und nicht zuletzt auf Physik und Mathematik im ausgehenden 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jhs..

Zur Zeit des Rabbi Löw hatte das Judentum in Prag sicherlich nicht seine schlechteste Zeit. Mehrere Synagogen wurden erbaut: Die Maisel-Synagoge, die Pinkassynagoge, die hohe Synagoge. Es gab ein jüdisches Rathaus, mehrere bedeutende Talmud-Schulen befanden sich in der Stad und es entstanden viele bedeutende literarische und wissenschaftliche Werke, die auch in speziellen Druckereien in hebräischer Sprache gedruckt und verlegt wurden.

Obwohl Rabbi Löw nur einen Teil seines Lebens in Prag verbrachte, ist er auf dem jüdischen Friedhof begraben.

Bitte lesen Sie weiter auf Seite 3: Tausend Jahre Unmenschlichkeit.

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2 Kommentare
  1. Mario R. Feigel sagt:

    Lieber Herr Rieder.
    Ich habe Ihren Beitrag mit großem Interesse gelesen, hat er mir durch seine vielen Informationen dieses alte mystisch, magische Wort „Golem“ mit Leben erfüllt. Es ist wirklich erstaunlich festzustellen, wie dieses „ungeformte Bild“ andere kulturelle Gebiete durch die Jahrhunderte zu beeinflussen wusste. Was also hat der Rabbi Löw da heraufgeholt? Schon ein kurzer Blick in die Ägyptologie (Wikipedia s.v. Papyrus Vandier) lässt eine gewisse Atemlosigkeit spürbar werden (n.b. auf dem verso findet sich ein Abschrift des Totenbuches, in dem es immer darum geht den Verstorbenen auf seinem Jenseitsweg vor Dämonen und Unheil zu bewahren). Der Golem verdankt sein Auftauchen ja der Bedrohung durch offizielle Institutionen von Kirche und Staat. Die Vernichtung der jüdischen Gemeinschaft, die materielle Enteignung, der drohende Tod können in diesem Sinne als eine Paraphrase für die aus religiöser Anschauung des Ägypters Bedrohlichkeiten für sein ewiges Jenseitsleben verstanden werden.
    Die Urmasse Lehm, auch eine Vorstellung, die in den Schöpfungsmythen der Ägypter zu finden ist, ist amorph und wird durch rabbinischen Geist belebt, bleibt aber zumindest nach der Legende golem, unterwürfig, dienend und manchmal mit Tendenz zum Amok. Einerseits muss der Legendenbildner ihn auf dieser Stufe belassen, da er sich sonst gottgleich machen würde, schüfe er einen wirklichen Menschen, wie es seine Religion berichtet. Rabbi Löw ist somit etwas wie ein kleiner Demiurg, der sein Geschöpf aber auch wieder verschwinden lassen kann, ihm das interessante Siegel der Wahrheit entreißt. Ein eigenartiges symbolträchtiges Bild und erzählerisches Konzept.
    Das Eingebettetsein der Gestalt in die Zeit massiver jüdischer Pogrome in Prag durch das Haus Habsburg verlangt ebenfalls eine zeitgeschichtliche Annäherung von Seiten unbewusster kollektiver Heilsvorstellungen. Interessanterweise ist dieser Golem keine rettende Heldenfigur, wie sie die christliche Welt und die Volksmärchen hervorbringen, sondern eher ein „Knappe von armseliger Gestalt“, der aber über große Kräfte verfügt. Es wäre denkbar, dass der Golem insofern eine kollektive Doppelnatur des damaligen Prager Judentums darstellen könnte, wofür seine ungeschlachte, ärmliche Erscheinung spricht, die so das Bild der ausgeschlossenen, verachteten und verfolgten Juden der Ghettos retrospektiv wie prospektiv darzustellen vermag. Die Kraft, die ihn heraushebt spiegelt sich meines Erachtens in dem Finanzwesen, das den Juden überlassen wurde. Die Maria Theresia, die die Juden so verfolgte, wird abgelöst von Joseph II. und Rudolf II., die beide in ihrer Religionspolitik (Josephinismus) einen geschützteren Status für die Juden schufen. Die dunkle Figur des Golem scheint unter diesem zeitgeschichtlichen Aspekt die Wiederbelebung antiker Vorstellung: „per aspera ad astra“.
    Sie sehen an meinen Überlegungen, dass ich mich auch in das Netz von Deutungen, Variationen, Spekulationen nur zu gern einlasse und meinen Gedanken nachhänge. C.G.Jung nimmt Bezug auf den Golem aus dem Roman von Gustav Meyrink in Psychologie und Alchemie und interpretiert den nun mehr ahasverischen Golem als einen ewigen Geist, der dem Helden im Roman goldenen Körner in die Hand gibt, die dieser verwirft, weil er sie als Weizen verkennt. Aurum nostrum non aureum vulgo sagten die spirituell orientierte Adepten der Alchemie.

    • Rieder sagt:

      Herzlichen Dank, Herr Feigel, für den überaus anregenden Kommentar.
      Da habe ich ja in den nächsten Tagen ordentlich was zu tun …

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