Paul Schwer - Seite 2

Fragen in den Raum stellen.

Paul Schwer, Baos
Chinesische Baozis

Was machen chinesische Maultaschen in der Kunst?

Baozis sind die chinesischen Varianten unserer berühmten schwäbischen Maultaschen, sehr ähnlich den Jiǎozi, die in Japan als Gyōza populär sind und der osteuropäischen Pelmeni ähneln und zu jeder Tageszeit, aber besonders zum Frühstück in China gegessen werden. Man bekommt sie auf einer Hafenrundfahrt in Hong Kong und abends überall auf den Straßen in Shanghai und nun auch in Londoner, Kölner und Düsseldorfer Galerien als Baos zu sehen.

Schwers Baos, so bezeichnet er diese Werke, gehören nun nicht gerade dem Genre Eat Art o.ä. an. Ihre assoziative Verbindung mit den beliebten chinesischen Amuse-Gueule mag persönlicher Art und einem längeren Aufenthalt zwischen 2005-2006 im Rahmen eines Artist in Residence Programms in Shanghai verdankt sein, wie wir seiner Biografie unschwer entnehmen können.

Unschwer könnte auch ein Wort der Annäherung an die Baos sein, an diese farbig bemalten, zerknäulten Plastikgebilde, die in öffentlichen wie privaten Räumen auf dem Boden liegen, frei stehen, über Gerüste gespannt und auch scheinbar schwerelos von Decken hängen.

Paul Schwer, BaosIst der kleine Hunger dann mal vergangen, assoziiert man sich unweigerlich kunsthistorisch in die Zeit des Barock mit seinen üppigen Darstellungen von Faltenwürfen in Seide und Brokat bei den niederländischen und italienischen Meistern.

Seit der Renaissance nicht selten Gegenposition zum mittelalterlichen „Vanitas“ Verständnis, erreicht das Kunstwerk in der barocken Darstellung menschlicher Opulenz und wohlhabenden Selbstbewußtseins sein Eingeständnis und seine eigene Rechtfertigung stolzer Eitelkeit. Demut, Tod und Vergänglichkeit fallen dem neuen, ewigen Schönen der Neuzeit. Das letzte Hemd ist längst schon kein schlichtes Linnen mehr.

Das neuzeitliche Selbstbewußtsein löst die menschliche Demut des Mittelalters ab. Waren die Faltenwürfe des italienischen Bilderhauer-Genies Gian Lorenzo Bernini wie etwa in seiner Blessed Ludovica Albertoni oder seiner Ecstasy of Saint Teresa aus dem Jahr 1651 n.Chr. noch wenigstens Teil der klassischen Darstellungen der jüdisch-christlichen Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen, von der Nichtigkeit und Vergeblichkeit allen Strebens, vom leeren Schein des eitlen Benehmens, transformiert Schwer die menschliche Opulenz des Barock in die industrielle Nüchternheit von heute und findet im Plastik jenes Material als Gegenstück zu Seide und Brokat, das gleichsam die Erinnerung daran noch wachhält, in dem aber scheinbar Zerfall und Vergänglichkeit gänzlich ob einer schier endlosen Lebensdauer entmaterialisiert und entsymbolisiert scheinen.

In die Ambivalenz von kleinen Plastikprodukten und global-ruinöser Verschwendung.

Zerknüllt, wie lieblos weggeworfene Hüllen, andere exponiert in transparenter Leichtigkeit, trotzen sie dennoch ihrer Vergänglichkeit, behaupten fest ihre erstarrte Schönheit in leuchtenden Farben und sanften Formen. Andere erscheinen wie vom Bühnenhimmel eines Theaters heruntergefallene Kulissendekorationen, an denen sich noch die Theaterscheinwerfer und Bühnenbeleuchtungen beim Absturz verfangen haben. Wieder andere wirken, als seien sie nicht ganz zu Boden gestürtzt und bilden nun daselbst im Fall noch umfunktionalisiert zu postmodernen Deckenleuchten ein stilvolles Interieur in Vorstandsetagen.

Die Genealogie des mittelalterlichen theatrum mundi, dieser Globalmetapher von der Welt als Bühne und Theater, auf dem die inneren Störungen der Weltordnung als Drama inszeniert wurden, gipfelt heute in der Kontingenz des Daseins des Menschen und der Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Warenwelt.

Schön sehen sie aus. Die Baos mit ihren glattpolierten, leuchtenden Oberflächen, ihrem fetischisierten Industriedesign im postodernen Zeitalter, in dem selbst Weggeworfenes im Retro- oder Future-Look als neues Designerstück mithin als seriell unendlich recyclte Totalverwertung immer wieder neu den Markt betritt, lassen von einer irdischen Vergänglichkeit nichts mehr erahnen.

Schwers Baos sind keine theatralen Bilder „vanitas“, seine Kunst ist nicht heroisch. Seine Baos unterliegen demselben industriellen Produktionsprozess vom Rohmaterial bzw. Halbzeug über Erhitzen, Formen, Lackieren bis hin zur Montage wie etwa die Produktion von Fahrzeugkarosserien und von unzähligen anderen Industrieprodukten. Ähnlich wie H.A. Schult, der seine monumentalen Installationen sogar auf der Domplatte vor dem Kölner Dom aufbaute, und Christian Keinstar gilt die Inszenierung der Installationen allein der Mahnung, dem memento mori unserer Industriegesellschaften, deren Vergänglichkeit in der nachhaltigen Globaldestruktion von Plastik und anderen billigen, kontingenten Substanzwerten liegt, deren schierer Substanzverfall im Engeren wie beim Plastik sich allein in Hunderten von Jahren bemisst und man will gar nicht wissen, wo bei einem selbst am Ende die multiplen Metamorphosen solcher Verfallsprodukte wieder auftauchen. Die Total Cost of Ownership im Life Cycle des schönen Scheins jedenfalls sind verheerend.

Paul Schwer, Billboard, Installation
Paul Schwer, Billboard, Installation

Ende der Geschichte – und aus!

Billboards sind erfunden worden, um Werbebotschaften zu transportieren. Ihre Bild und Textkompositionen zielen auf die Erzeugung der Illusion eines glücklichen Tages in der Familie nach dem Verzehr streichfertiger Markenbutter zum Frühstück. Der Illusionismus der Billboards besetzt viel befahrene Straßen und Plätze und alle möglichen, hoch-frequentierten Indoor Locations. In den sog. Neuen Medien sind Billboards als Klammern von Bewegtbildbotschaften erkennbar, wenn in Vorfilmen und im Abspann z. B. von Youtube-Videos die Markenzeichen von Sponsoren sichtbar werden. An Bahnhöfen oder Flughäfen warten Billboards in 3-D-Auflösung auf uns, deren Botschaften den Blicken der Betrachter scheinbar in jede Richtung zu folgen in der Lage sind.

Schwers Billboards verstehen sich nicht allein als diametraler Gegensatz zur Werbetafel, sondern in ganz genereller Hinsicht als weitest entfernter Gegensatz zu jeder Form von lyrischer Expressivität, von gefühlsbetonten Botschaften, ja von der Erhabenheit der Kunst selbst. Sie existieren am äußersten Rand von Kunst selbst, da wo Kunst sich selbst zerstört, zumindest in ihren Abgrund blickt.

Die imponierende, leuchtende Schönheit von Schwers Billboards basiert auf der stark reduzierten Farbskala von Rot, Blau, Grün und Gelb und ist doch einzig sichtbar durch elektrischen Strom. Zieht man den Stecker, ist es aus mit der strahlenden Leuchtkraft des meist groß-dimensionalen Bildraums der Installation, erlischt sie zu nüchterner, illusionsloser, dinghaften Nichtigkeit, die nicht mal mehr ein rein visuelles Objekt vorstellt.

Paul Schwer, Billboard, InstallationDafür steht auch ihre serielle Anordnung, die keine Unterscheidung in der Wertigkeit der Farbtafeln macht, gleichzeitig aber sind sie unterschiedlich groß, wobei aber hier bei dem Aspekt der Größe eher der Zufall als die strikte Planung vorherrscht. Serialität erzeugt immer ein Höchstmaß an Redundanz des einzelnen, besonderen Bildelement und so imponieren Schwers Billboards einzig als großes, neutrales Ganzes.

Die Häufung der kleinen Flächen und deren Leuchtkraftgeber zwischendrin interferieren als eingefrorene Zeitvektoren, funktional im An-Aus oder 0-1 von elektrischem Strom und digitaler Rechen- bzw. Steuerungsleistung.

Sie übertragen, fest eingebaut in die Billboards, keine Motivwechsel wie bei Werbetafeln, sondern die elektrischen bzw. elektronischen Farbgebungssignale und damit das präzise Gleichmaß des Wechselstroms, der alle Farbelemente zum Leuchten bringt, oder das Kunstwerk als Ganzes abschaltet. So steht die Ungleichheit der einzelnen Elemente als temporäre Abweichungen rein visueller Objekte dem Werk als Ganzen gegenüber.

Bis dahin könnte man Schwers Billboards auch vorsichtig mit Gerhard Richters Farbtafeln und dem Kirchenfenster im Kölner Dom vergleichen, nur dass bei Richter das Tages- bzw. Sonnenlicht als Zufalls-Partner das Werk im Gotteshaus illuminiert. Zu seinen Farbtafeln sagte er: „Sie sind die einzigen Bilder, die nichts erzählen. Selbst die abstrakten Bilder sind wie Fotos von einer nicht existenten Wirklichkeit, einem unbekannten Dschungel. Hier – kein Illusionismus. Sie erzählen nichts, rufen keine Assoziationen hervor. Sie sind nur da, ein rein visuelles Objekt.“

Zu Richters Kirchenfenster ist auch noch zu sagen, dass es Teil eines öffentlichen Gebäudes ist, dessen Existenz auf, in menschlichen Maßstäben gerechnet, Ewigkeit zielt.
Konstruktion und Platzierung in öffentlichen Räumen machen Schwers Billboards vielleicht nur aus versicherungstechnischen Vorgaben etwas stabiler, als sie in Wahrheit sind bzw. intendiert waren. Bei einigen aber sieht man die Intention von Schwer recht deutlich: ein heftiger Windstoß ließe ihre wackelige Stabilität schnell durchschütteln und sie fielen zusammen zu einem Haufen Baumüll; was für ein finale furioso von Kunst.

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2 Kommentare
  1. Karl Völlinger sagt:

    Sehr geehrter Herr Schwer,
    bewundernswert sind ihre Werke, interessante und großartige Leistungen.Wir freuen uns daran.
    Ich wohne in Schonach, in Ihrem Geburtsort.
    Wie mir scheint, hier kennt man Sie und Ihre Werke nicht. Oder will man Sie hier nicht kennen?
    Wie schade.
    Vielleicht steht eines Ihrer Werke auch einmal in unserem Ort.
    Grüße aus Schonach im Schwarzwald
    Karl Völlinger

    • Rieder sagt:

      Sehr geehrter Herr Völlinger,

      vielen Dank für Ihren Beitrag, den wir gerne direkt an Herrn Schwer weiterleiten.
      Einen schönen Sonntag und beste Grüße in den wunderschönen Schwarzwald.

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