Sven Kierst Fotografie - Seite 2

Bilder, die etwas auslösen.

Drei Werkbesprechungen


Die Präsidentenansprache

Sven Kierst: Die Präsidentenansprache.

In: Freiheit durch Begrenzung, 2012.
Eine Besprechung

Kierst-BlumentoepfeOrdnung. Auf den ersten Blick scheint dies das Thema der Fotografie zu sein.

Scharf getrennt durch eine leicht schräg verlaufende Begrenzung aus Steinen in zwei Bereiche, einen vorderen und einen hinteren Bild-Bereich, verlaufen alle Linien zu dieser parallel; Monotonie zieht ein.

Im hinteren Bereich sind die Linien perspektivisch kaum noch zu erkennen wie auch die einzelnen Töpfe, in denen eine Sorte Blumen oder Kräuter gezogen werden, zu einer diffusen Masse verschwimmen; Serialität wirkt.

Reihe und Serie

Ordnung imponiert hier als Reihung und Serialität. Reihung in geschlossener Monotonie, Serialität in der ihr eigenen, stets wiederkehrenden Redundanz, die das Besondere, das Einzelne und Individuelle fast zur Unkenntlichkeit auflöst.

Hinter der Stein-Begrenzung erkennt man noch einzelne Töpfe, markiert durch Aufkleber. Bezeichnungen, die schon nichts Spezifisches mehr bezeichnen, allenfalls Masse. Ebenso ist es mit der Farbe, die sich in diffusem Licht ohne Glanz und Schatten auflöst. Einzig die steinerne Begrenzung hebt sich noch wohltuend aus dem Einheitsgrau heraus.

Dort, wo einzelne Formen unterscheidbar und erkennbar sind, hat allenfalls Komik die Bühne betreten; Höhepunkt in dem umgekippten Pott, der vielleicht vor Lachen sich hingelegt hat, aber immer noch in exakter Parallelität bei Seitenlage.
Der vordere Bereich gleicht einer Bühne, vielleicht Rednerbühne, sicherlich keine Rock-Bühne. Allenfalls deutscher Schlager. Viel Leben gibt es auch hier nicht zu erkennen. Nichts hebt sich auch hier von der redundanten Masse ab. Vereinzelung trägt keine individuelle Besonderheit, im Gegenteil. Die Gleichmacherei ist ubiquitär.

„Präsident“ scheint mir eine unpräzise Bezeichnung zu sein; Staatschef und Diktator wären wohl angebrachter. Aber auch darauf kommt es nicht mehr an; vielleicht auch nur ein Gag, ein Apercu, der uns in all dieser Trostlosigkeit noch zum Lachen bringen soll? Eigentlich ein recht „schreckliches“ Foto.

Westcoast

Sven Kierst: Westcoast

Eine Besprechung

Sven-Kierst-Westcoast 2013Westcoast datiert aus 2013. Die formale Aufteilung der Arbeit läßt unweigerlich an ein Triptychon, was soviel heißt wie „dreifach gefaltet“ oder aus „drei Teilen, Lagen“ etc . bestehend bedeutet, denken.

Ganz zurück in seiner Geschichte wurde es z. B. in der christlichen Malerei zur Darstellung christlicher Sujets benutzt, wobei die Seiten unterschiedliche Szenen darstellten, Haupt- und Nebenfiguren christlicher Sujets, oder einfach im geschlossenen Zustand alltägliche, weltliche Themen und im geöffneten Zustand etwa Motive der christlichen Mythologie. Ja, sogar in einem durchaus praktischen Zweck fand das Triptychon in kleineren Ausmaßen quasi als Vorläufer des Buchs auf Reisen seine Anwendungen. Westcoast zeigt eine Dreiteilung, sonst aber fehlt neben diesem rein formalen Zitat des Triptychons jede andere der historischen Bedeutungen und Zweckhaftligkeiten.

Das Triptychon findet sich auch in der Kunst des späten 19. und 20. Jahrhunderts – so das Aino-Triptychon des finnischen „Brücke“-Künstlers Akseli Gallén-Kallela, sowie in der Gegenwart. Auf deutschsprachiger Seite sind hier insbesondere Otto Dix, Max Beckmann und Oskar Kokoschka zu nennen. Dabei sind die Themen nicht mehr auf das Religiöse fixiert: Bei Dix ist es der Erste Weltkrieg und seine Folgen; bei Beckmann und Kokoschka werden mythologische Geschichten und auch künstlerische Zitate von Alten Meistern neu zusammengesetzt. Auch Guernica von Pablo Picasso und Barnett Newmans Serie Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue können als Triptychen und eine Auseinandersetzung mit ihnen angesehen werden. Ein weiterer Künstler, der Bilder als Triptychen anordnete, ist der englische Maler Francis Bacon (Wikipedia).

Triptychon als inszeniertes Close-up

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Schaut man sich die einzelnen Elemente an, dann kann man gerade noch sagen, dass jedes für sich auf gewisse Weise das Thema: Westcoast darstellt, vielleicht als Ausschnitt, als Auschnittsvergrößerung aber nicht als wirkliche Themenvariation.
Nimmt man das Foto insgesamt kommt ebenso unweigerlich der Gedanke auf, hier hat Kierst ein Gemälde, bestehend aus drei Teilen, drei Leinwänden abfotografiert. A macht das aber wenig Sinn und B gehört das eigentlich nicht zu seinem Konzept, Malerei durch fotografische Arbeit zu reflektieren. Der umgekehrte Vorgang wäre Svens Kiersts Sache. Also im Foto die Grenze zur Malerei zu überscheiten, und das scheint hier auf hervorragende Art gelungen zu sein. Ein Foto, das die Vorstellung eines westlichen Küstenabschnitts in Form eines gemalten Triptychons auslöst.

Dann bleibt noch die Frage: was ist es dann, wenn nicht eine Fotografie eines Gemäldes? Eine Zusammensetzung von drei Ausschnitten des selben Gemäldes kann es dann auch nicht sein. Und wiederum gehört das nicht zu seinem fotografischen Konzept. Wir können also einiges darüber sagen, was es nicht ist, aber ist es denn überhaupt von Wert zu wissen, wo und wann Kierst diese Aufnahme aufgenommen hat? Oder ist es nicht mehr als ausreichend zu wissen, dass das Thema „Westcoast“ selbst beim Betrachten der Arbeit als Vorstellung eines als Triptychon realisierten Gemälde in unserem Kopf entstehen kann? Ich glaube, das ist mehr als genug.

Und einmal mehr zeigt Sven Kierst, dass moderne Fotografie beileibe nicht zu ihrem Ende gefunden hat, wie man neuerdings in der Reflektion auf Werke von Andreas Gursky z. B. schon hat hören und lesen dürfen, was diesem auch nicht ganz gerecht zu werden vermag. Und dass es in der konzeptuellen Fotografie, wie sie von Sven Kierst verstanden und realisiert wird, duchaus für Fotografen genug zu tun gibt und dass es die Frage nach Anwesenheit und Abwesenheit im Medium der Fotografie immer wieder neu zu stellen gilt.

Ungeduldiger Himmel

Sven Kierst: Ungeduldiger Himmel

Eine Besprechung

Sven Kierst: Der ungeduldige HimmelUngeduldiger Himmel datiert aus 2013. Selten hat man beim ersten Blick auf ein Foto so unmittelbar dieses Gefühl einer gewissen heiteren Hoffnung, einer Aussicht auf eine bessere Zukunft, oder wie wie man auch sagt: Jedem Ende wohnt ein neuer Anfang inne.

Inhaltlich, also als eine Metapher verstanden, ist das Werk von Sven Kierst recht schnell erzählt. Ein paar Details aber sind es Wert, durchaus noch einmal genauer betrachtet zu werden, sieht man darin auch wieder die großartige Art seines Verständnisses von konzeptueller Fotografie.

Wie in „Westcoast“ und einigen anderen seiner Arbeiten erkennt man hier auch in diesem Foto das Element der Begrenzung. In Westcoast löste es die Vorstellung eines gemalten Triptychon aus, hier definiert es einmal den Unterschied von Vorder- und Hintergrund und zum anderen einmal mehr die Transgression, den Übergang zwischen Fotografie und Malerei, von Anwesenheit und Abwesenheit.

Nicht wenige unserer zeitgenössischen Maler hätten nach dem Betreten dieses Zimmers schnell zum Pinsel gegriffen und eben die Stelle des gräuslig blauen Hintergrunds mit ein paar schnellen Bewegungen des Quasts zum Himmel verwandelt. Dies hat aber schon jemand anderes erledigt, vielleicht der ehemalige Hausherr selbst. Hier war kein Künstler am Werk.

In den Raum zwischen Anwesenheit und Abwesenheit

Aber diese Stelle, die von den abblätternden Tapeten freigegeben wird, eröffnet in der Gesamtkonzeption des gewählten Ausschnitts und Formats des Fotos jene Phantasie der Hoffnung und des Aufbruchs. An dieser Stelle mag man auch den wesentlichen Unterschied zwischen Malerei und Fotografie erkennen und unsere These, dass es ein Wesensmerkmal der Fotografie und damit einer eigenständigen Kunst ist, An- und Abwesenheit als eigene Bedeutungsebene fotografisch realisieren zu können, nachvollziehen. Denn ein Maler hätte die Tapete eben malen müssen. Und dann funktioniert die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit als eigenständige Bedeutungsebene nicht mehr.

Das Foto von Sven Kierst mag noch vieles im Betrachter auslösen, was bis hierher nicht zur Sprache gekommen ist. Vorenthalten möchten wir nicht dieses wunderbare Gedicht im Anschluss, das mit den Zeilen:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

unserer Meinung nach eine glückliche Verbindung zwischen Poesie und der Arbeit von Sven Kierst als Metapher herstellt.

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Hermann Hesse

Neue deutsche konzeptuelle Fotografie

Sven Kierst ist ein äußerst interessanter Vertreter der neuen deutschen konzeptuellen Fotografie, die er auf eine ganz eigene Art interpretiert, mehr noch, realisert. Seine Arbeiten wurden bisher in unterschiedlichen Institutionen, in Einzel- und Gruppenausstellungen in Deutschland gezeigt. Die Zunahme der positiven Reaktionen in der Öffentlichkeit kann man fast täglich wahrnehmen. Das Preisgefüge seiner Werke liegt noch im moderaten Bereich.

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