München-Venedig - Seite 4

Zu Fuß über die Alpen

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenUnd weiter ging es. Das Sella Massiv steht an. Es sieht von unten aus wie eine riesige Bergfestung. Seine Wände ragen steil auf, und man weiß zunächst gar nicht, wo es denn da hinein und hinauf gehen soll. Der Wanderweg führt auf halber Höhe am Massiv entlang, um dann plötzlich unvermittelt ins Val Settus einzubiegen. Das Val Settus ist kein beschauliches Tal, sondern eine riesige steile Schutthalde, die bis vielleicht 200 Meter unter den oberen Rand des Plateaus reicht, das den Hauptteil des Sellamassivs bildet. Diese letzten 200 Meter sind abgesicherte Kletterei. Wenn man oben steht, weiß man, was man getan hat. Oben findet man die Pisciaduhütte und einen herrlichen Bergsee. Man findet allerdings auch Nebel, Kälte und Schnee, denn man bewegt sich in Höhen zwischen 2600 und 3100 Metern. Es war erst Juni. Auf warmes Sonnenwetter gibt es in der Höhe keine Garantie.

Krone des Sella ist der Piz Boe. Wie gesagt der leichteste 3000er der Dolomiten. Es war in der Tat keine Überanstrengung, ihn vor der Einkehr auf der Sellahütte noch zu machen. In der Sellahütte saß man gequetscht beieinander. Der Hüttenwirt kann hier eigentlich niemanden abweisen. Ein Wetterumschwung kündigte sich an, und die Leute oben auf dem Sella-Massiv müssen irgendwo unterkommen. Außerdem sind Wanderer ja, wie gesagt, ganz gut im Zusammenrücken. Das macht sie sympathisch.
Am nächsten Morgen war die ganze Landschaft rund um die Hütte weiß. Es war Winter geworden mitten im Juni. Die Wege waren glatt. Ich hatte keine Steigeisen mit, weil die recht schwer und fürchterlich sperrig im Gepäck sind. Aber ich hatte Glück und es ging gerade so auch ohne sie.

Herrliche Blicke öffnen sich vom Sella Richtung Bindelweg und Marmolada. Und was schön war: die Sonne kehrte gegen Mittag zurück und mit ihr die Sonnenlaune. Runter ging es zur Forcella Pordoi und rüber zum Bindelweg und später dann zum Lago Fedaia.

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenAuf dem Bindelweg habe ich mir erst einmal einen Schock geholt. Beim Wandern hatte ich längst vergessen, um welchen Wochentag es sich gerade handelte, und es musste wohl schon wieder Wochenende sein.

Der Weg war voller Menschen. Man ging hier in Reih und Glied hintereinander den alten Bauernweg entlang durch die grüne, liebliche Landschaft. Irgendwo muss es einen Dolomitenführer geben, in dem geschrieben steht, wenn deine Oma keinen Weg in den Bergen mehr schafft, auf dem es was zu sehen gibt, dann transportiere sie per Lift auf die Marmolada, da ist sie gleich ohne einen Schritt zu Fuß auf 3400 Meter und kann alles von oben sehen, oder, falls sie gehen möchte, nimm den Bindelweg, den schafft sie und auch da gibt es die Marmolada zu sehen und dazu den Fedeia-See und einiges mehr.

Es waren also im Schritttempo anwesend so ziemlich alles, was Südtirol an fremden und einheimischen Papas und Mamas, Kindern und Enkeln, Omas und bergsüchtigen Opas zu bieten hatte, ein Prister im Ornat führte eine große Gruppe erlösungsbedürftiger Jugendlicher zur Messe unter freiem Himmel in die frische Luft der sonntäglichen Berge. Man hatte die rechte Wiese noch kaum gefunden, und staute schon mal den Weg vor den Nachkommenden.

Ein Hubschrauber flog unablässig Bauteile für die Schutzhütte Viel del Pan ein. Und das am Wochenende!
Die Leute staunten. Man diskutierte allgemein die Kosten und verstand dann plötzlich die Pastapreise auf den Hütten. Wenn viele Leute zusammen sind, wird viel geredet. Wenn viele Italiener zusammen sind, besonders viel. Man hört die hohen Stimmen der Mädchen, die leidenden der Mütter, denen schon alles zu viel ist und die quengelnden der Kinder, die wie immer nicht genug Gehör finden. Und alles ist sehr laut, weil man ja gezwungenerweise auf dem Weg hintereinander geht und nicht wie von der Stadt gewohnt, als Familientrupp die ganze Straßenbreite besetzen kann, was stautechnisch die gleiche Wirkung hat. Man hat also allen Grund, sich auf dem Bindelweg zuhause zu fühlen.

Ich fühlte mich über- und unterfordert gleichzeitig. Überfordert wegen der vielen Leute und unterfordert, weil es mir hier eindeutig zu langsam voran ging. Eigentlich reichte das Tagespensum bis zum Fedaia See. Aber mir war nach Weitergehen und es war gerade früher Nachmittag geworden im Wandererstau.

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenWie von allein ging es den Passo Fedaia hinunter zu einer engen, malerischen Schlucht, dem Serrai de Sottoguda. Das Flüsschen, das durch diese Schlucht fließt, heißt meine ich Pettorina, und an ihm ging es den Nachmittag entlang. Es mündet in ein etwas größeres Flüsschen und dies endlich in den See von Alleghe.

Hier machte ich Rast und hatte kaum gemerkt, dass ich zwei Tagesetappen an einem Tag gemacht hatte. Wandern bringt einen wirklich in Form. Ich hatte bis hierhin 10 Pfund abgenommen, trotz besten Essens und bestem Rotwein.

In Alleghe schlief ich im Sporthotel „Europa“. Nach den Hütten und den zumeist einfachen Unterkünften der letzten Wochen war das schon einmal deutlich etwas anderes, sich abends zum 4-Gang Menü mit ausgesuchten Weinen zu setzen und die zuvorkommende Bedienung zu genießen, der ich der Noblesse wegen in der inzwischen getrockneten zweiten meiner beiden Hosen entgegentrat, die eigentlich erst am kommenden Morgen zum Einsatz kommen sollte.

Nach dem recht ausgiebigen Essen verlief ich mir wie ein Kurgast beim Sonnenuntergang die Beine am See.

Es war dies meine letzte Nacht in den Bergen der Dolomiten, was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste, denn am nächsten Tag bekam ich einen Vorgeschmack auf den Weltuntergang. Das Bergglück wandte sich gegen mich.

Früh morgens, es muss gegen sieben gewesen sein, denn früher bekommt man im Hotel meist kein Frühstück, erwartete mich wieder die herrlichste Sonne. Bald war ich abmarschbereit und machte mich auf zur Talstation der Bahn zum Col die Baldi. Ich hatte für heute vor, zum Coldaisee aufzusteigen und an der Chivetta entlang, deren sensationelle Westseite fast eintausend Meter steil abfällt, zum Torre Venetia zu wandern, einer landschaftlich exponiert gelegenen Felsnadel für ehrgeizige Kletterer, die alle Bitten ihrer Mütter in den Wind schlagen, gut auf sich aufzupassen.

In der Gegend liegt die Vazollei-Hütte, wo man die Helden vom Torre Venetia auf den Bänken vor der Hütte antrifft, wie sie ihre Gerätschaften pflegen und die Seile ordnen und – egal ob Junge oder Mädchen – die Selbstzufriedenheit satter Panther ausstrahlen, die zu zeigen man üben muss, bevor der Eindruck gelingt.

Diese ostentative Ruhe im eigenen Körper durchkreuzt sich gleichsam mit der wissenden Sorge um den Pflegezustand der eigenen Ausrüstung. Jungens und Mädels geben gleichsam Tarzan und Putzfrau in einer Person. Ich finde das eine reizvolle Kombination und kenne sie ganz gut von Bergsteigern, Paraglidern, Drachenfliegern oder Tauchern.
Als weiteren Tagesverlauf hatte ich mir dann die Wanderung an der einsamen Südseite der Moiazza Berge vorgenommen. Ich hatte vor, mindestens bis zum Rifugio Tomè, wenn nicht weiter zur Pramperet-Hütte zu kommen.

München-Venedig, zu Fuß über die Alpen München-Venedig, zu Fuß über die AlpenVom Plan zurück zur Wirklichkeit. Oben am Col die Baldi öffnet sich der Ausblick rüber zum Monte Pelmo, einem Solitär von Berg, an den man sich später immer wieder erinnert. (Dabei fällt mir auf, wie viele eindrucksvolle Berge meiner Wanderung ich nicht einmal erwähnt habe. Der Langkofel hätte zum Beispiel mindestens eine Erwähnung verdient.)

Den Weg hinauf zum Monte Coldai machte ich in der angenehmen Kühle des sonnigen Vormittags.
Der Coldai-See ist nach dem Aufstieg genau der richtige Platz für eine Rast, bei der man leicht etwas die Zeit verschläft. Nachdem man ihn passiert hat, wendet sich der Weg um die Chivetta mit ihren wie schon gesagt sensationellen Abhängen herum.

Man passiert die Tissi-Hütte, die wie ein Adlerhorst etwas abgerückt vor den Steilwänden der Chivetta liegt, die Fenster seltsamerweise ausgerichtet auf die vielleicht fünfhundert Meter entfernten Steilwand und nicht wie sonst anders herum mit weitem Blick übers Tal.

Die Wand war hier offenbar das Interessante. Zwei Jahre später werde ich in genau dieser Hütte sitzend, die ich nach bereits heftigem Platzregen gerade noch erreichen werde, ein Alpengewitter erleben. Der Himmel wird sich fast nachtschwarz verdunkeln und die Blitze werden in immer schnellerer Folge die Steilabhänge der Chivetta erleuchten. Und links und rechts und überall wird es krachen. Mir wird auffallen, dass Blitze ganz und gar kein warmes Licht geben. Ihre Kälte, Helligkeit, Häufigkeit, Plötzlichkeit gegen die Massivität des Tausendmeter-Abgrundes der Chivetta. Dazu ein Donner-Soundtrack. Und all das bei einem heißen Hüttentee. So geht großes Kino.

Heute freilich war ich nur ein wenig verspätet in den Nachmittagsteil meiner Wanderung geraten. Es wurde schwüler. Ich begegnete ganz unerwartet einem Wanderer, einer Art Spiegelbild von mir selbst, der meinen München-Venedig-Weg in umgekehrter Richtung ging, also von Venedig nach München.

Es ist sehr unterhaltsam, wenn einer den anderen fragt, was denn jetzt noch auf ihn zukommt. Wann hat man schon einmal die Möglichkeit, jemanden zu treffen, der in die eigene Zukunft schauen kann?
Aber weiter. Nach dem Torre Venetia traf ich denn auch wirklich auf der Vazollei-Hütte einen der wildkatzenhaften Helden der Berge bei der Pflege seiner Geräte an. Wir kamen ins Gespräch und es wurde wieder später und schwüler.

Von hier noch aufzubrechen stellte sich als ein großer Fehler heraus. Der Weg von der Hütte führte bergab. Der Wirtschaftsweg verbreiterte sich. Er war nicht unbedingt für Wanderer gemacht. Der eigentliche Wanderweg sollte irgendwo unten rechts wieder bergan gehen, aber er war schwer zu erkennen und als ich ihn schließlich gefunden hatte, war es schwer, ihm zu folgen, weil er nur ziemlich schlecht markiert und durch junges Grün überwachsen war. Oben am Bergrelief entdeckte ich die Umrisse der Scharte, über die mich der Weiterweg führen würde. Aber irgendwie saß ich fest.

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenDer Himmel war unterdessen verdächtig braun geworden. Ich hatte, in ein Seitental gequetscht, ohnehin keine Fernsicht, um zu sehen, was los war.

Ein brauner Himmel, so als ob Dreck in der Luft ist? Das Braun verfärbte sich binnen Minuten in ein Dunkelgrau. Ich ging im Kopf meine Chancen durch. Zurück zur Vazollei-Hütte war unmöglich. Wenn das Wetter in der nächsten halben Stunde schlechter würde, würde ich mich schon auf dem ersten Kilometer Rückweg hoffnungslos verlaufen.

Weiter über den Kamm nach vorn? Da würde ich genau in das aufziehende Gewitter hineinlaufen. Keine Chance. Mir blieb nichts anderes über, als es auszusitzen. Also so weit wie möglich den Hang runter in eine Schonung mit nicht zu hohen Bäumen, aber auch weit genug vom Bach weg. Weg mit allem, was aus Metall ist. Alles anziehen, was Wasser abweist. Isomatten auspacken und auf den Boden, in der Hoffnung, dass sie auch gut gegen Blitze sind. Draufstellen, Knie zusammen, hinkauern. Ein Männlein steht im Walde.

Das Krachen ging los. Der Regen ging los. Die Blitzeinschläge gingen los. Es wurde dunkel. Leider kein Kino.Was jetzt kam, war reine Glücksache. Und es hörte einfach nicht mehr auf. So als hätte mein Hochtal das Gewitter geradezu eingefangen und lasse es nicht mehr los.

Irgendwann wurden die Blitze dann doch seltener. Aber der Gewitterregen hörte keineswegs auf und es wurde schnell kälter. Ich hatte völlig Recht gehabt, nicht weiter zu gehen und den Col dell Orso zu überschreiten, denn dort schlugen nach wie vor Blitze ein. Außerdem hätte ich bei abendlichem Schlechtwetter kaum sicher den mir unbekannten Weiterweg gefunden.

Ich steckte München-Venedig, zu Fuß über die Alpenfest und war klitschnass und fand die Berge zum Kotzen. Vor ging nicht, zurück ging nicht, raus könnte gehen. Es wurde dunkel. Alles war nass. Hinlegen und einfach draußen biwakieren ging auch nicht.

Bei Einbruch der Nacht ließ der Regen endlich nach und ich beschloss, loszugehen, eigentlich nicht, um irgendwo hinzukommen, sondern einfach, weil gehen warm hält. Die einzige Chance war, den Wirtschaftsweg wiederzufinden. Der musste ja schließlich irgendwo hinführen.

Der Sound der nächsten zwei Stunden war das regelmäßig patschende Geräusch des Wassers in meinen vollgelaufenen Wanderstiefeln. Irgendwann erreichte ich die Landstraße. Jetzt wäre eine Gaststätte gut. Aber ich fand keine, die noch geöffnet hatte. Ich kam durch nächtliche Orte, in denen nichts mehr los war.

An einem verlassenen Touristenrastplatz an der Landstraße gab es Wasser und ich versuchte, meine Socken trocken zu bekommen. Ich erinnere mich gut, wie ich barfuß im Dunklen am Brunnen gesessen habe, um die Füße zu kühlen und die Socken auszuwringen.

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenStockfinster ist die Nacht auf Landstraßen in Südtirol. Es gibt keinen Platz, wo man als Wanderer hingehört. Man geht ziemlich unbeleuchtet auf Asphalt und muss sich das Gehupe entgegenkommender LKWs anhören. Außerdem geht es durch eine ganze Reihe Straßentunnel, die links und rechts keinen Platz für Fußgänger vorsehen. Da kommt das Gehupe besonders gut.

Nicht unschwierig fand ich auch das Verhältnis so mancher Bauern zu ihren Hofhunden. Es bellte aus allen Ecken, aber bei weitem nicht alle Hoftore waren verschlossen. Die Landstraße ist nachts auch eine Art Hofhundeachterbahn.

Es muss so gegen vier Uhr morgens gewesen sein, als das Gewitter wieder einsetzte. Ich war bis kurz vor Belluno gekommen und brauchte dringend eine Möglichkeit, mich unterzustellen.
Inzwischen war ich mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen und hatte von Alleghe bis hierhin gut 50 Kilometer hinter mir.

So fertig wie ich war, war mir eine überdachte Bushaltestelle mit Bank gerade recht, um jetzt doch zu biwakieren, zumal der Fahrplan einen Bus nach Belluno gegen sieben Uhr ankündigte. Das folgende Gewitter hat mich schon nicht mehr besonders aufgeregt, obwohl es keine zweihundert Meter entfernt von mir einen Baum zerlegte.

Kurz nach sieben brachte mich der Bus die letzten paar Kilometer nach Belluno. Die Alpen lagen damit hinter mir. Ich habe mir eine mehrtägige Pause in Belluno gegönnt. Auf der ganzen Wanderung habe ich nicht eine einzige Blase bekommen und dennoch konnte ich in Belluno zwei Tage lang nicht richtig laufen.

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenAbgesehen davon, dass Belluno ohnehin eine sehr schöne, mittelalterliche Stadt an der Piave ist, hat mir gefallen, dass der Domorganist einen guten Geschmack hatte und beim Üben Publikum zuließ. Ich liebe moderne Orgelmusik. Olivier Messiaen und eine mittelalterliche Stadt wie Belluno passen gut zusammen.

Bis Venedig wären es jetzt nach den Alpen noch fast 100 Kilometer. Also 2 Chaostage oder 4 normale Tage oder 2 Stunden mit dem Bus.

Ich fand, zwei Stunden mit dem Bus sei die bei weitem attraktivste Möglichkeit. Dennoch! Ich wollte zu Fuß ankommen und wählte den Bus nur bis Jesolo, um von dort die letzten 25 Kilometer zu wandern bis zur Fähre nach Punta Sabbioni. Wieder ein schöner, heißer, letzter Tag, an dem mir alles noch einmal durch den Kopf ging, bevor ich dann nach einem kleinen Umweg an den Lido, wo ich mich mit meiner Frau verabredet hatte, zuletzt auf dem Markusplatz ankam.

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