Kann man einen Beitrag zu Tschechien und besonders zu Prag schreiben, ohne die Geschichte und das Schicksal des Judentums in dieser Stadt zu erwähnen? Ich glaube: Nein!
Die folgenden Seiten haben nichts mit unserem Sport zu tun. Sie versuchen, sich einem schwierigen Thema ein wenig zu nähern, wohl wissend, dass nichts auch nur annähernd an das Schicksal so vieler Ermordeter heranreichen kann. Dem Respekt aber vor den Toten gilt der folgende Beitrag.
Rabbi Löw und der Golem von Prag
Die Gemeinde Nikolsburg in Südmähren war Sitz der Landesrabbiner von Mähren, also kulturelles Zentrum der mährischen Juden und hatte mit Rabbi Löw – Jehuda Liva ben Becalel, so sein richtiger Name – der hier zwanzig Jahre lang als zweiter Landesrabbiner wirkte und der den berühmten Golem von Prag geschaffen haben soll, den wohl bekanntesten Vertreter.
Die Geschichte des Golems ist spannend, interessant und eine der vielschichtigsten Geschichten in Bezug auf die christliche Genesis, den Talmud, die Zahlenmystik der Kabbala, die Alchemie und nicht zuletzt auf die Psychoanalyse sowie die Literaturwissenschaft, um nur einige der thematischen und symbolischen Querbeziehungen zu nennen.
Bei der Figur des Golems handelt es sich um ein aus Lehm gebildetes Wesen von menschenähnlicher Gestalt, das durch Magie zum Leben erweckt wurde. Es besitzt besondere Kräfte, kann Befehlen folgen, aber nicht sprechen.
Golem ist das hebräische Wort für „Ungeformtes“, aber auch für „Embryo“. Im modernen Iwrit, also der heute meistgesprochenen Sprache in Israel, bedeutet das Wort/Verb golem auch „dumm“ oder „hilflos“. Die rabbinische Tradition bezeichnet alles Unfertige als Golem, auch eine Frau, die noch kein Kind empfangen hat, wird als Golem bezeichnet wie z. B. im Babylonischen Talmud.
Bis heute sind die Ursprünge der Golem-Legende unbekannt. Bekannt sind verschiedenen Varianten der Legende und die erste schrfitliche Erwähnung im 12. Jh. in einem Wormser Kommentar zum Buch der Schöpfung, einem Text der Kabbala. Darin geht es um die Zahlenmystik der 10 Urziffern, die Sephiroth und die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Dieses Buch der Schöpfung ist leider ein nur fragmentarischer Text, in dem aber eben dieses Ritual erwähnt wird, durch das unbelebte Materie zum Leben erweckt werden kann. Das Ritual selbst besteht aus einer geheimen Kombination der 22 Buchstaben und der 10 Zahlen.
Der kabbalistische Lebensbaum zeigt zehn göttliche Emanationen, deren hebräische Bezeichnung Sephirot ist. In frühen theologischen und philosophischen Denkmodellen (Neuplatonismus, römischer Prägung z. B.) stehen diese Emanationen für die Vorstellung, dass Ideen und deren Attribute aus der Fülle (Baum) eines ursprünglich Einen, Ganzen und Vollkommenen (Platon, griechisch: to hen) oder wie hier aus dem Göttlichen geschieht. So steht der kabbalistische Lebensbaum auch symbolisch für den Gott-geschaffenen Menschen, den Adam Qadmon, demgegenüber, quasi als die dunkle Kehrseite des Lebensbaumes der Baum des Todes mit dem Qlīpōt steht.
- Kether oder Kether Eljon (Krone, erster aufleuchtender Punkt im En Sof)
- Chochmah (göttliche Weisheit, Klugheit, Geschicklichkeit, Schöpfungsplan)
- Binah (Wille, Einsicht, Verstand; Intelligenz)
- Chesed (Liebe, Barmherzigkeit, Gnade, Gunst, Treue), bisweilen auch bezeichnet als Gedulah (Größe, Langmut), Abraham
- Din, Gewurah oder Gebura (Gesetz, Stärke, Macht, Sieg, Gerechtigkeit), Isaak
- Tiphereth (Aufrechterhaltung des Daseins, Pracht, Verherrlichung, Schönheit), Jakob
- Nezach (Ewigkeit, Beständigkeit, Sieg; Ruhm, Blut, Saft)
- Hod (Glanz, Majestät, Donner)
- Jesod (Gründung, Grund, Grundstein, Grundlage), Josef
- Malchuth oder Schechina (Königreich, Herrschaft, königliche Würde, Regierung), David
- Da’at (das innere Wissen, Erkenntnis, Empfangen)
Das Da’at repräsentiert einen Zustand, in dem alle göttlichen zehn Sephiroth mystisch vereint sind, ist aber selbst keine Kraft, kein eigenes Sephiroth.
Neben der neuplatonischen Lesart, die die Sephiroth als Emanationen begreift, existieren noch andere kabbalistische Interpretationen, die die Sephiroth als Ordnung ethischer Werte oder als Ordnung der Welt, von der Göttlichkeit über die materielle bis hin zur psychischen Sphäre begreifen.
Das folgende Zitat von Hugh J. Schonfield verdeutlicht recht klar eine mögliche Lesart der zehn Sephiroth, die die Gestalt des Adam Qadmon beschreibt:
„Sein Kopf ist eine Triade aus Weisheit und Intelligenz, die überragt werden durch die Krone, die Herrschaft symbolisiert. Die Brust, die Schönheit, ist verbunden mit dem rechten Arm, der Barmherzigkeit und dem linken Arm, der Gerechtigkeit. In einer dritten Triade beherrschen die Genitalien, die als Fundament bezeichnet werden, das rechte Bein, die Festigkeit und das linke Bein, die Pracht, die wiederum eine Triade mit den Füßen bilden, welche Königreich bedeuten.“
Nach der Lehre des Kabbalisten Isaak Luria besteht die Schöpfung aus drei in sich wiederholenden Phasen. Die erste beginnt mit dem Tzimtzum, einer Selbstbeschränkung bzw. unklaren Differenzierung des göttlichen unendlichen Seins En Sof (siehe Sephiroth 1). Dem Tzimtzum entsteht ein Urraum, in dem Adam Qadmon sich als Urgestalt allen Seins bildet und der als Schöpfergott alles weitere der Schöpfung emaniert. Seine göttliche Kraft erscheint in Form von Licht, welches durch seine Körperöffnungen bricht und so die Welt erleuchtet, emaniert.
In der zweiten Phase steht die Vorstellung voran, dass die Welt in ihrem Urzustand eine Art Ansammlung unvollkommener Gefäße, das heißt durch ein niederes Lichtgemisch entstandene Gefäße ist, die das göttliche Licht aufnehmen. Diese Phase heißt Qlīpōt. Trifft das Licht des Adam Qadmon darauf , gehen die Gefäße zu Bruch (d.i. Schvirat ha-Kelim). Diese zertrümmerten Splitter nehmen aber das Licht des Adam Qadmon an, vermischen sich damit und erhalten durch diesen göttlichen Funken ein eigenes, aber dämonisches Leben; welch eine Deutung, die auch einige Konsequenzen zwischen der jüdischen und der christlichen Theologie nach sich zieht (unter mehr davon).
Die dritte Phase der Schöpfung ist der Tiqqun, die Phase der Restitution. Hier steht die Vorstellung voran, dass Adam Qadmon das in Phase zwei entstandene kosmisches Desaster behebt durch ein spezieles, aus seiner Stirn hervorleuchtendes Licht. Es ist also hier eine Art Selbstreinigung Gottes vom Bösen bzw. Götzendienst zugange. Aber nicht nur das Göttliche, sondern alles Seiende ist schöpfungsgenetisch bestimmt (Tiqqun), das Böse zu bekämpfen und letztendlich (eschatologisch) ein reines Sein zu schaffen.
Lieber Herr Rieder.
Ich habe Ihren Beitrag mit großem Interesse gelesen, hat er mir durch seine vielen Informationen dieses alte mystisch, magische Wort „Golem“ mit Leben erfüllt. Es ist wirklich erstaunlich festzustellen, wie dieses „ungeformte Bild“ andere kulturelle Gebiete durch die Jahrhunderte zu beeinflussen wusste. Was also hat der Rabbi Löw da heraufgeholt? Schon ein kurzer Blick in die Ägyptologie (Wikipedia s.v. Papyrus Vandier) lässt eine gewisse Atemlosigkeit spürbar werden (n.b. auf dem verso findet sich ein Abschrift des Totenbuches, in dem es immer darum geht den Verstorbenen auf seinem Jenseitsweg vor Dämonen und Unheil zu bewahren). Der Golem verdankt sein Auftauchen ja der Bedrohung durch offizielle Institutionen von Kirche und Staat. Die Vernichtung der jüdischen Gemeinschaft, die materielle Enteignung, der drohende Tod können in diesem Sinne als eine Paraphrase für die aus religiöser Anschauung des Ägypters Bedrohlichkeiten für sein ewiges Jenseitsleben verstanden werden.
Die Urmasse Lehm, auch eine Vorstellung, die in den Schöpfungsmythen der Ägypter zu finden ist, ist amorph und wird durch rabbinischen Geist belebt, bleibt aber zumindest nach der Legende golem, unterwürfig, dienend und manchmal mit Tendenz zum Amok. Einerseits muss der Legendenbildner ihn auf dieser Stufe belassen, da er sich sonst gottgleich machen würde, schüfe er einen wirklichen Menschen, wie es seine Religion berichtet. Rabbi Löw ist somit etwas wie ein kleiner Demiurg, der sein Geschöpf aber auch wieder verschwinden lassen kann, ihm das interessante Siegel der Wahrheit entreißt. Ein eigenartiges symbolträchtiges Bild und erzählerisches Konzept.
Das Eingebettetsein der Gestalt in die Zeit massiver jüdischer Pogrome in Prag durch das Haus Habsburg verlangt ebenfalls eine zeitgeschichtliche Annäherung von Seiten unbewusster kollektiver Heilsvorstellungen. Interessanterweise ist dieser Golem keine rettende Heldenfigur, wie sie die christliche Welt und die Volksmärchen hervorbringen, sondern eher ein „Knappe von armseliger Gestalt“, der aber über große Kräfte verfügt. Es wäre denkbar, dass der Golem insofern eine kollektive Doppelnatur des damaligen Prager Judentums darstellen könnte, wofür seine ungeschlachte, ärmliche Erscheinung spricht, die so das Bild der ausgeschlossenen, verachteten und verfolgten Juden der Ghettos retrospektiv wie prospektiv darzustellen vermag. Die Kraft, die ihn heraushebt spiegelt sich meines Erachtens in dem Finanzwesen, das den Juden überlassen wurde. Die Maria Theresia, die die Juden so verfolgte, wird abgelöst von Joseph II. und Rudolf II., die beide in ihrer Religionspolitik (Josephinismus) einen geschützteren Status für die Juden schufen. Die dunkle Figur des Golem scheint unter diesem zeitgeschichtlichen Aspekt die Wiederbelebung antiker Vorstellung: „per aspera ad astra“.
Sie sehen an meinen Überlegungen, dass ich mich auch in das Netz von Deutungen, Variationen, Spekulationen nur zu gern einlasse und meinen Gedanken nachhänge. C.G.Jung nimmt Bezug auf den Golem aus dem Roman von Gustav Meyrink in Psychologie und Alchemie und interpretiert den nun mehr ahasverischen Golem als einen ewigen Geist, der dem Helden im Roman goldenen Körner in die Hand gibt, die dieser verwirft, weil er sie als Weizen verkennt. Aurum nostrum non aureum vulgo sagten die spirituell orientierte Adepten der Alchemie.
Herzlichen Dank, Herr Feigel, für den überaus anregenden Kommentar.
Da habe ich ja in den nächsten Tagen ordentlich was zu tun …