Ästhetische Grenzübertritte
Wie immer auch die Definition ausfallen mag, hier betreten wir das Feld der Kunst-Fotografie. Wir behaupten sogar: was uns Sven Kierst vorstellt, begründet auf ihre Weise eine neue Art der Fotografie.
Kierst inszeniert seine Motive nicht, er findet sie. Direkt in seiner Umgebung, auf Reisen, an den unterschiedlichsten Orten in der Landschaft, in Gebäuden, in Szenen, im Detail.
„Bis auf minimale Verbesserung in Helligkeit oder Kontrast verändere ich nichts. Das gehört zum Konzept, den Moment, so wie er war, festzuhalten. Ich will nicht mit technischen Effekten überwältigen. Es geht um die wirkliche, vorhandene Anordnung der Dinge, um Wahrheit. Meine Bilder sind in diesem Sinn auch nicht grell, laut oder aufdringlich.“ (S. Kierst)
Weit gefehlt zu meinen, Kierst fotografiert spontan, lässt uns die Poesie des Augenblicks, das Besondere des Unmittelbaren entdecken; mitnichten. Seine Fotografie ist in allerhöchstem Maße konzeptuell.
Konzeptuelle Fotografie
Und hier gründet auch gleich seine Besonderheit. Denn seine Konzeptionalität ist sein Sehen selbst. Ein konzeptionelles Sehen, das eine lange und erfahrungsreiche Schulung hinter sich hat. In allen seinen Motiven erkennt man sofort die komplexe Ausgangs-Konzeption aus Farben und Formen, die nicht selten hochgradig grafisch-konzeptionell ist, einer Szenerie, die manchmal gestellt wirkt, es aber nicht ist, sondern sich gerade so ergeben hat, als er den Auslöser drückte.
Deconstruction Duchamps
Nicht, dass seine Fotografie ohne Rückbesinnungen auskommen will. Wer Sven Kierst in der Geschichte der Fotografie verorten möchte, der findet in der konzeptuellen Fotografie durchaus Analogien zu Positionen, die im Werk von Sven Kierst aufgegriffen, dann aber nicht unreflektiert, sondern auf äußerst aufregende Weise neu bearbeitet werden.
Positionen, wie sie schon in den 6oger Jahren von Klein und besonders von Marcel Duchamps formuliert wurden, greift Kierst auf seine höchst eigene Art wieder auf.
Marcel Duchamp, der seine Kunst von der sogenannten „retinalen Kunst“ abgrenzen wollte, die überwiegend auf das Auge einwirkt, statt als Vorstellung oder Verknüpfung von Bedeutung im Denken zu wirken, darf durchaus als Meilenstein der konzeptuellen Fotografie und als Bindeglied zu Kierst betrachtet werden. Zum Glück erspart uns Kierst die doch so oft spröde, teils schwer zugängliche und manchmal elitäre Auseinandersetzung mit seinem Werk, wie dies zu oft nur bei den Gründern dieses Genres der Fall war.
Eine Reduktion von Komplexität findet nicht statt.
So basieren auch inhaltlich seine Motive auf einem gerade nicht spontanen, sondern entwickelten Geschehen in der Wirklichkeit, das bei näherer, vor allem eingehender Betrachtung sich zeigt.
Im Gegensatz zu heute bekannten und berühmten Photoshop-Künstlern, bei denen die Bild-Konzeption nachträglich technisch entwickelt wird, ist sie bei Kierst schon im Moment der Aufnahme vorhanden. Die bildtechnische (Nach-) Bearbeitung, auch Sven Kierst bekannt und gelegentlich auch äußerst virtuos eingesetzt, ist aber nichts anderes als eine Hinzugabe, eine Pointierung. Kein wesentliches Element.
Das Bild entsteht bei Kierst im Hinsehen und im richtigen Moment des Kameraverschlusses. Diese Gabe des konzeptuellen Sehens, die auch einige andere Fotografen für sich beanspruchen, erfährt hier eine völlig neue Dimension, die Kierst auch die große Freiheit verleiht, seinen Bildern eine geradezu multidimensionale Tiefe zu verleihen, mit der wir uns stundenlang auseinandersetzen können, auf eine lange Entdeckungsreise gehen können, auf der uns nicht selten heitere, komische, tragische, kritische, versöhnliche, politische, kulturelle, philosophische Schichten begegnen – und diese Liste der Reise-Etappen könnte so fortgeschrieben werden.
In den Raum zwischen Anwesenheit und Abwesenheit
Virtuos variiert Kierst das ureigene Thema, eigentlich das Wesen der Fotografie, nämlich als einziges Medium, nicht als Technik, als einziges Medium der Darstellung von Anwesenheit und Abwesenheit gleichermaßen und gleichzeitig mächtig zu sein. Seine Aufnahmen erzählen Geschichten, zeigen etwas, das auf den ersten Blick nicht da zu sein scheint.
Bei Sartre und Merleau-Ponty in der Mitte des letzten Jahrhunderts, aber auch heute wieder aktuell ist die Frage: Wie können wir die Welt als anwesend denken? Jüngere Philosophen bezweifeln, dass es die Welt überhaupt gibt bzw. geben kann, aber von solchen erkenntnistheoretischen Verstrickungen ist Sven Kierst zum Glück befreit. Gleichwohl aber dringen die Arbeiten von Kierst tief ins Zentrum dieser Fragestellung, die schon Platon und Aristoteles zeitlebens beschäftigt hat.
In Teilen des modernen Kunst-Diskurses blüht wieder jene Auffassung auf, die behauptet, Kunst lasse uns etwas sehen, etwas Ursprüngliches, Authentisches, etwas Wahres und Originelles mit und nur mit den Mitteln der Kunst. Aber können Kunstwerke auf ihren Oberflächen, mit Farben, Formen, Materialien, Massen, Themen, Alegorien etc.dieses verborgene Sein überhaupt zur Anschauung bringen? Uns die wahre Idee der Welt vermitteln? Oder sind Kunstwerke, wie Sartre und Merleau-Ponty verstehen, nicht eher in dieser Paradoxie von Anwesenheit und Abwesenheit gefangen, sind transparente Platzhalter, die auf etwas verweisen, was eben nicht mit Mitteln der Kunst dargestellt werden kann?
Von wegen Wohlgefallen!
Und Kunst, diese Versammlung bildhübscher, blühender Frauengestalten, Musen genannt, entschädigt uns vielleicht von diesem ewigen Verlust der großen Idee, indem sie uns eine äußerst verführerische, raffinierte, uns überaus schmeichelnde Präsenz herstellt, an die wir nur all zu gerne glauben möchten und die wir nur allzu gern in ästhetischen Erfahrungen konsumieren, wobei nicht vergessen werden darf, dass bei den antiken griechischen Verführerinnen die Malerei noch gar nicht aufgeführt ist neben Tanz- und Dichtkunst und einer Reihe anderer.
Wollte man einen technischen Begriff verwenden für das, was Kierst in vielen seinen Arbeiten tut, könnte man das als Malerei mit der Kamera bezeichnen. Zugegeben, das klingt ein wenig holprig formuliert, aber wir benutzen diesen Vergleich, weil er eventuell hilfreich ist und etwas vorstellt wie der Rakel bei Richter oder der Spachtel, der Bunsenbrenner, das Wischtuch, Hammer und Nagel etc. bei anderen Künstlern. Aber dass es bei Kierst um eine Art Malerei geht, nicht ausschließlich, manchmal auch nur subtil, wenn es das Sujet so bestimmt, ist offensichtlich und macht den ästhetischen Reiz seiner Bilder aus.
Die Grenze zur Malerei jedenfalls ist Kierst jederzeit in der Lage, mit seiner Kamera mühelos zu überschreiten, was beileibe aber kein leichtes Unterfangen ist. Nur wenigen mag dies gelingen.
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Dort finden Sie auch in der Galerie oben neue Fotografien aus dem Jahr 2014 und bislang auf dieser Seite noch nicht veröffentlichte Werke,