Alberto Burri – Gibellina

Street Map of Destruction

Die künstlerische Dekonstruktion eines Erdbebens.

Der Tod kam in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar im Jahr 1968 in die Stadt Gibellina im Westen der Insel Sizilien. Er benutzte ein Erdbeben unter der Stadt, um zu deren Einwohnern zu kommen, von denen 231 den Besuch nicht überlebten, viele verletzt, alle anderen obdachlos und in ihren Seelen erschüttert wurden.

Was sollte aus der Stadt Gibellina nun werden? Was aus seinen Bewohnern? Die Provinz Trapani, in der der zerstörte Ort lag, hatte ihre Bewohner immer ausreichend versorgt. Über zweitausend Jahre lang mit Landwirtschaft, hauptsächlich dem Anbau von Gemüse und Obst und der Produktion von Olivenöl, viele Jahre auch durch den Thunfischfang. Also, warum wegziehen? Diese Region verlassen, die berühmte archäologische Ausgrabungen beherbergt wie die Fundstätten von Mozia, Segesta und das ehemals griechische Selinunt, das im 7. Jhd. v. Chr. von dorischen Griechen aus dem ostsizilischen Megara Hyblaea gegründet und das bereits in der Antike zu den wichtigsten Poleis Siziliens zählte?

Selinunt war reich, wovon heute noch zahlreiche Tempel zeugen, die zu den bedeutendsten griechischen Tempeln Siziliens zählen. Selinunt war historisch bedeutsam und existierte mehr als vierhundert Jahre, viele davon an der Seite von Karthago gegen die Hegemonialansprüche Roms, wovon die Ruinen aus der karthagischen Siedlungsphase des Ortes zeugen, wenn gleich diese etwas weniger imposant sind als Tempel und Colloseum.

Alfio Garozzo - Photography - Gibellina - Sizilien - Italien

Gibellina: Cretto di Burri ph Alfio Garozzo

Alfio Garozzo - Photography - Gibellina - Sizilien - Italien

Gibellina: Cretto di Burri ph Alfio Garozzo

Gibellina, Cretto di Burri, Sizilien, Italien

Gibellina: Cretto di Burri ph Alfio Garozzo

Gibellina entstand nach dem Erdbeben nicht neu. Gibellina Nuova entstand etwa 15km westlich als eine gänzlich unsizilianische Stadt vom Reißbrett mit breiten Straßen nach modernem, amerikanischen Vorbild mit zweistöckigen Wohngebäuden im Reihenhausbau mit Garagen und kleinen Vorgärten entlang der breiten Straßen.

Der damalige Bürgermeister der Stadt sprach Alberto Burri an und lud ihn ein, ein Kunstwerk für die neue Stadt zu erstellen. Es war eine Zeit, in der einige Künstler sich noch einmischten in das Leben der Menschen, eine politische Zeit, auch in der Kunst.

So kamen denn auch andere Künstler nach Gibellina, zahlreiche bekannte Architekten, Bildhauer und Maler stifteten Kunstwerke für die Plätze der neuen Stadt. Dazu zählten, um nur einige Beispiele zu nennen, u.a. Rob Krier, Oswald Mathias Ungers, Pietro Consagra, Arnaldo Pomodoro, Renato Guttuso und Joseph Beuys und ließen Gibellina zur Stadt mit der höchsten Dichte an moderner Kunst in ganz Italien avencieren.

Alberto Burri schaute sich das alte, das völlig zerstörte Gibellina an und bemerkte sogleich, dass nur hier sein Kunstwerk entstehen konnte und nicht in der neuen Stadt. Wie das alte Gibellina so da lag erkannte Burri, dass das Erdbeben an dieser Stelle seine Kunst in monumentaler Weise verwirklicht hatte.

Die Materialien, die Burri benutzte, wie Teer, Eisen, Plastik, Papier, Sackleinen waren alle vorhanden. Seine Techniken wie etwa Schweißen, Reißen, Brennen, Ritzen, Verschmelzen, Verkleben, Verlaufen und Vertrocknen hatte das Erdbeben in Gibellina in Gang gesetzt.

 

Cretto_di_Burri_Gibellina

Foto: Nóra Lukács, Il Grande Cretto di Gibellina, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

Eingestürzte Fassaden gaben die Blick auf dahinterliegende Zimmer und Wohnungen frei, Feuer hatte Wände geschwärzt, Brandlöcher hinterlassen. Durch zahllose Risse und eingestürzte Wände waren neue Farbflächen und neue Farbmuster und – nuancen entstanden, sichtbare Zeichen einer befleckten und verletzten Realität. Jeder einzelne Riss signifizierte sowohl etwas von der Zerstörung, als auch von einer Berührung, von etwas neu Verbindendes, einer Sythese.
„Ich wollte schon lange untersuchen, wie das Feuer verzehrt, das Wesen der Verbrennung verstehen und wie beim Verbrennen alles lebt und stirbt, um eine perfekte Einheit zu bildenb“, so Burri schon im Jahr 1955.

Die Faszination Burris für organische Prozesse, Prozesse der Begrenzung, des Verbindens und von Verfalls- und Veränderungsprozessen stand in der zerstörten Stadt vor ihrem schrecklichen, natürlichen Vorbild. Die gezielte und die zufällige Zerstörung von Material mithin Wirklichkeit war Burri nicht fremd. Feuer war längst eine Maltechnik, Zufall und künstlerisches Kalkül arbeiteten bei Burri immer schon Hand in Hand, gleich welches Material bzw. welche Materialkompositionen er auch benutzte.

Die Temperatur seiner Schweißflamme erzeugte auf den Metaloberflächen sowohl Zerstörung wie auch Verbindung, ließ Farben auf Oberflächen entstehen, verhalf den unsichtbaren Farben der Tiefe zur Sichbarkeit. Überall entstanden Durchsichten und Mehrfachansichten, je nach Licht und Winkel der Betrachtung.

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Foto: Nóra Lukács, Il Grande Cretto di Gibellina, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

Der Zerstörungsprozess war zugleich Bildfindungsprozess, war Destruktion und Konstruktion zugleich; nichts anderes meint der Begriff der Dekonstruktion, dessen Faszinosum aus Zufall und künstlerischem Kalkül viele der jungen Künstler der Arte Povere, des neuen Realismus aber auch aus anderen Kunst-Genres folgten, nachdem sie Burri kennen gelernt, ihn in seinem Atelier in Rom besucht hatten.
Lee Bontecou, Cy Twobly, Robert Rauschenberg, Richard Serra, Piero Manzoni, Jannis Kounellis, Mario Merz, um nur einige zu nennen. Sie alle nutzten Assemblagen aus verschiedenen, meist industriellen Materialien für ihre Werke oder waren von den vielfältigen Erscheinungen und Stufen von Veränderungsprozessen, wie sie von Burri künstlerisch eingefangen wurden, inspiriert.

Was das Erdbeben hinterlassen hatte, wie war das einzufangen, wie in einen künstlerischen Prozess zu transformieren? Wie viele seiner Bilder als dreidimensionale Objekte sich aus ihren Rahmen in den Raum erstrecken, so sollten die Ruinen der Stadt Gibellina als ein monumentales Werk verwirklicht werden. Als eine Art architektonische Skulptur und Gemälde zugleich und sieht man Il Grande cretto di Gibellina aus der Luft, dann ist ein Unterschied zu einem der Cretti Gemälde von Burri allein in der Dimension zu erkennen, die eine Fläche von fast zehn Hektar umfasst.

Das Grande Cretto ist Alberto Burris einziges Land-Art-Projekt. Es steht sichtbar schon von weitem als monumentales Monochrom in der westsizilianischen Landschaft. Die Erinnerung an Gibellina, die Ruinen und Reste der erdbenbenzerstörten Stadt haben hier gewissermaßen ihre letzte Ruhestätte gefunden.Trümmer, Mauerreste, Mobiliar, Persönliches und Öffentliches hat Burri mit Unmengen von weißem Zement umhüllt, Stützwände an den Straßenrändern hochgezogen und mit Beton verfestigt. Wie vor dem Beben ziehen sich die Gassen hangwärts, bilden zur Erinnerung an den Januar 68 den einstigen Grundriss der Stadt ab.

Die Cretti gab es im Werk von Burri schon früher. Inspiriert vom Death Valley in Kalifornien experimentierte Burri bereits in seinen frühen Werken der Muffe / Bianchi mit Zinkweiß und Harzkleber und einer Mindermenge an Bindemittel, was diesen Krakelee-Effekt und die unvorhersehbaren Zerspannungs-Muster und -Strukturen auf der Oberfläche verursachten. Auch das Grande Cretto ist wie die Cretti der frühen oder der späteren Phase ab den 70er Jahren diesen Zerspannungsprozessen ausgesetzt – natürlich auch den Umweltprozessen – und  verhält sich wie eine selbständig arbeitende skulpturale Malerei, nur in einer anderen Dimension.
Die wunderbaren Detailaufnahmnen und Close Ups in dem fast lyrischen Video von Petra Noordkamp – siehe Sidebar rechts – zeigen diesen Prozess der organischen Oberflächenveränderung bzw. seine Auswirkungen vorzüglich.

Bitte lesen Sie weiter auf Seite 2: Il Grande Cretto – Der tiefe Riss in der Kunst.

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Oberbayer

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2 Kommentare
  1. Peter sagt:

    Ich war vor 10 Jahren in Gibellina und war und bin von diesem Ort sehr angetan , fastziniert und berührt.

    Als ich dieser tage die Bilder von dem Erdbeben in Mittelitalien sah, wie dort die Menschen flohen vor dem Erdbeben, mußte ich als erstes an diesen ergreifenden Ort Gibellina denken und an meine vor 3 jahren verstorbene Lebensgefährtin, sie war Sizilianerin aus der Region Trapani …

    In Memorandum Caterina

    • Rieder sagt:

      Lieber Peter,

      schade, dass Sie so schwere, traurige Erfahrungen mit dem Ort verbinden müssen. Die Bilder vom Erdbeben haben auch mich und bestimmt auch viele andere Menschen ergriffen.
      Ich wünschen Ihnen alle Kraft, dass Sie ihre schweren Erlebnisse überwinden.

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