Mathias Lanfer - Seite 3

Die Performance der Energie

Wie schon gesagt, in Lanfers Kunst geht es ganz wesentlich um das „formgebende Prinzip“ selbst. Was, wenn dieses Prinzip aber keine Idee ist im Sinne einer idealisierten Vorstellung des Schönen? Was anderes aber ist denn Materie oder Material als ein Aggregatzustand von Energie? Was ist Veränderung anderes als Energie?

Mathias Lanfer, SkulpturEine Zufuhr von Energie ist nötig, um einen Körper zu beschleunigen oder ihn entgegen einer Kraft zu bewegen.
Ohne Energie ist keine Substanz zu erhitzen bis hin zur Verflüssigung.
Um ein Gas zusammenzudrücken, elektrischen Strom fließen zu lassen oder elektromagnetische Wellen abzustrahlen, sowie um im leeren Raum materielle Teilchen entstehen zu lassen, braucht es Energie.
Lebewesen benötigen Energie, um leben zu können.
Kein Betrieb von Computersystemen, keine Telekommunikation, keine wirtschaftliche Produktion, ohne Energie.
Energie kann in verschiedenen Energieformen vorkommen, als potentielle Energie, kinetische Energie, chemische Energie oder thermische Energie. Seit der Quantenphysik und den hamiltonschen Bewegungsgleichungen sowie der Schrödingergleichung bestimmt Energie die zeitliche Entwicklung aller physikalischen Systeme. Ihre Grenze ist Entropie.

Mathias Lanfer Plastiken / SkulpturenLanfer geht es also um Energie. Das erfuhr er bereits, bevor er sein Studium bei Tony Cragg in Düsseldorf aufnahm, als er dort noch Malerei studierte: „Meine Bilder wurden immer dicker und wurden immer räumlicher.“
Dann bei Cragg konnte er seine kräftigen Hände endlich an die eigentlichen formgebenden Kräfte anlegen, an Feuer wie in den Hochöfen seiner Region, wo Material zum Glühen gebracht wird und sich nun formen ließ.

Erhitzen und Abkühlen, oft in langwierigen, abwechselnden Prozessen braucht seine Kunst, wie neuerdings auch den Luftdruck, der im Wechsel mit Freiformpressen plastisches Material zu leicht anmutenden, schier transparenten Formen aufbläst, die dann wiederum mit schweren Sockeln zum Werk verbunden werden.

Der Kunsthistoriker Jean Christophe Ammann fand Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhundert den schönen Ausdruck „drop sculptures“ in seinem viel zitierten “Plädoyer für eine neue Kunst im öffentlichen Raum“, den wir gerne als eine Bezeichnung für Lanfers plastisches Werk aufnehmen.

Was Ammann vorschwebte hatte zwar etwas von romantischer Zinngießerei, ausgehend von den Formen ins Wasser fallender Tropfen. Aber darin sah er auch schon die großdimensionalen Plastiken der Kunst am Bau, die in jenen Jahren zu immer größer werdenden Projekten und damit in ganz neue technische Dimensionen von Bildhauerei vorstießen.

Mathias Lanfer Plastiken / SkulpturenMathias Lanfer Plastiken / SkulpturenMit den übergroßen Kunst am Bau Projekten wuchs auch die Plastik im öffentlichen Raum ins Überdimensionale. Berühmte Namen zu finden wäre leicht, ersparen wir uns aber, denn wir wollen gerade den Unterschied zu Projekten von H.A. Schult bis zu M. Lüpertz herausarbeiten. Und der beginnt damit, dass gegenständliche, oder wie man sagt, figurative Elemente in der Kunst von Mathias Lanfer nicht beabsichtigt sind, gleichwohl manche Assoziationen dahin durchaus möglich sind. Hier wäre also gerade das gegenständlich Identifizierbare ein „reiner“ Zufall, mithin ein optischer Impuls zu derartigen Gedankenbildern, justament also sein eigenes Gegenteil.

Natürlich fällt der formale Unterschied von Figurativ und Abstrakt in Lanfers Kunst. Wenn etwa die tektonischen Kräfte das Matterhorn auffalten, haben wir doch eigentlich auch nichts anderes zunächst, als einen zufällig so geformten Granitklotz in der Landschaft, bevor er zum Sinnbild der schweizerischen alpinen Landschaft wurde.

Lanfer spielt mit den Kräften unseres Industriezeitalters. Sein „Spielzeug“ waren und sind allesamt Produktionsmittel zu Herstellung industrieller Güter und deren profitabler Verwendung.
Aber gerade darum geht es ihm nicht, an einer Kulturkritik kapitalistischer Provenienz mitzuwirken. Sein Thema ist, wie energetische Vorgänge formgebend werden, also ein zutiefst und hochmodernes Thema der Physik, wenn über die Entstehung – und den Untergang – des Universums nachgedacht wird.

Wenn also in Lanfers Kunst weder der blanke Zufall herrscht, noch ein ideales Prinzip, also eine, dem Vorgang der Formgebung von außen herangetragene Idee, dann bewegen wir uns dahin, wo die antike griechische Philosophie von Entechie sprach. Damals verstand man unter Entelechie (ἐντελέχεια entelecheia) etwas, was sein Ziel (Telos) in sich selbst hat, wie man unschwer am Ausdruck Entelechie erkennt, betrachtet man seine drei Bestandteile (en-tel-echeia): ἐν en (in), τέλος telos (Ziel), ἔχεια echeia von ἔχειν echein (haben/halten) nacheinander. Aristoteles bezeichnete mit Entelechie die Form, die sich im Stoff verwirklicht, also eine Art von aus sich selbst heraus entwickelnder Transformation und hatte dabei besonders eine, dem lebendigen Organismus innewohnenden Energie im Sinn, die ihn zur Selbstverwirklichung bringt. Heute wissen wir, dass diese wie jede andere Form von Energie, auch die lebender Organismen wie der Mensch in einer komplexen Form der Interaktion mit seiner Lebenswelt sich entwickelt.

Dem künstlerisch nachzuspüren ist Lanfer mittlerweile unterwegs. Licht, kombiniert mit und gestisch geführt durch kinetische Energie wie etwa in seinen Fotoarbeiten, die Schwingungen frequenzgesteuerter Vibratoren und einem Trampolin akustisch orchestral inszeniert wie etwa in seinem Video: Ich klebe dir eine sowie die Video-Serien: Slow Drop Carpet und Redrop, oder seine H-Milch Videos mit den schönen Untertiteln: Vorgezogenes Spätwerk weisen bereits deutlich nicht nur darauf hin, dass Lanfers Arbeiten auch anderen Formen energetischer Aggregate als nur den industriell-technischen nachspüren.

Wie alle Materie, wie alle Objekte sich verändern, zu etwas neuem transfromieren durch Energiebeigaben und Energieabzügen, so verändern sich auch die Wahrnehmungen selbst, vor allem, wenn die Dimension der Zeit, die selbst auch nichts anderes ist, als Energie, mit hinzugenommen wird. Slow motion und high speed sind dabei nur Repräsentanten einer künstlerischen Reflexion, die nicht nur die Körper und Objekte transformiert, sondern letzt endlich auch die Wahrnehmung von Räumen und räumlichen Objekten, mithin auch den Künstler selbst verändert.

Der Künstler als Subjekt des Prozesses, als Planender, als Handelnder, als Beobachtender wird, energetisch gesprochen entropisch, verschwindet in einer Selbsttransformation ins Geschehen selbst, wird Teil der Performance von Energie; Ende pro tempore.

Ach, übrigens – nota bene:
Amerikanisches Frühstücksfleisch, Spam.
Spam ist ursprünglich ein amerikanisches Dosenfleisch; der Name ist möglicherweise die Abkürzung von Spiced Ham, also „gewürzter Schinken“. Dieses Fleisch wurde in Großbritannien während des Krieges trotz Rationierung in großen Mengen verteilt. Die übertragene Bedeutung geht auf einen Sketch der britischen Comedyserie „Monty Phyton’s Flying Circus“ zurück. Er spielt in einer Kneipe, wo es keine Mahlzeit, ohne das Dosenfleisch gibt – was auch immer man bestellt. In aufdringlicher Wiederholung taucht in dem Sketch mehr als 100-mal das Wort Spam auf: es wird zusehends zum Symbol für Sinnlosigkeit und Absurdität. Heute bezeichnet man mit Spam die Überschwemmung von elektronischen Postfächern mit unerwünschten Werbemails, die äußerst lästig sind und hohe Kosten verursachen.

Dies zur Vorbereitung auf weiteres, was später noch kommt. Die Beschäftigung mit dem fotografischen Werk von Mathias Lanfer. Ebenso mit seinen zahlreichen Videos und den spannenden Projekten.

Und dann noch etwas. Immer wieder liest man in heutigen Tagen den Spruch: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“*
So viel Erhellendes und einem gründlichen Nachdenken Würdiges der dänische Philosoph und Essayist auch hinterlassen haben mag, aber so einfach ist es nicht mit dem Leben und dem Verstehen. Sorry, Sören, aber der Spruch ist schlicht Unsinn!

*Sören Kierkegaard

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