Celle

Vom Sinn und Unsinn von Bedeutung

Nur ein kleines Stück vom Kuchen der Geschichte.

Celle - Niedersachsen

Celle - NiedersachsenWas macht Celle zu einer, in unserem Sinne, historischen Stadt. Die pittoreske Altstadt allein wohl nicht. Denn solche Alstädte gibt es in Deutschland viele. Die 400 Fachwerkhäuser und ein Schloss im Renaissance-Stil? Reicht das?
Celle steht für uns exemplarisch und in diametraler Umkehrung zu Bamberg als eine Stadt, die wie so viele andere nichts zu verbergen hat, nicht einmal ihren Staus als nationalsozialistische Garnisionsstadt, davon gab es auch recht viele. Geschichte aber gab es doch reichlich in Celle. Was ging schief, sich davon ein großes Stück abzuschneiden, von dem man und die folgenden Generationen ein auskömmliches Leben gerne gehabt hätte?
Im Gegenteil geradezu ist Celle der missglückte Versuch, historische Bedeutung zu erlangen, aber von Bleibe waren und sind Fachwerkhäuser und ein Schloss, sonst nichts.

Viel wurde versucht, wurde angestrengt, schien glücklich und auch historisch von Bedeutung zu sein.1524 wurde die Reformation durch Herzog Ernst I. (den Bekenner) von Braunschweig-Lüneburg in Celle eingeführt. Celle war damit die erste Stadt nach Wittenberg, die sich vollständig der Reformation anschloss. Aber anders als in Wittenberg bringen Historiker und Menschen, Einwohner wie Touristen die Stadt nur schwer mit der Reformation noch in Verbindung. Und wie ein Wirt, der, vor der Pleite stehend die Bierpreise erhöht, so lies man in Celle sich den Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verleihen und das ist so wie bei den Chipspackungen, viel steht drauf, aber wenig ist drin.

Celle - NiedersachsenCelle - NiedersachsenCelle stand in seiner gesamten Geschicht im Wettstreit mit Lüneburg und hat diesen Wettbewerb vielfältig verloren. Im Jahre 1705 starb der letzte Celler Herzog Georg Wilhelm und vererbte das Fürstentum Lüneburg – eben nicht das von Celle, das gab es bereits nicht mehr – an seinen Neffen Georg Ludwig, den späteren englischen König Georg I. in Hannover. Celle gehörte nun zum Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg.

Als Ersatz für den Verlust des Status als Residenzstadt erhielt Celle in den folgenden Jahrzehnten drei Verwaltungseinrichtungen: das Oberappellationsgericht, das Zuchthaus und das Landgestüt. Damit begann die Entwicklung zur Beamten- und Juristenstadt, in der danebst prachtvolle Pferde gezüchtet wurden; nur reiten wollten die Feudalherrech dann doch lieber in Hannover, in England und anderen Feudalsitzen.

Beträchtlich war und ist heute noch mit geschätzten 400 Millionen Euro das Vermögen der Welfen. Sie sind neben den Kapetingern und den Reginaren das älteste noch existierende Hochadelsgeschlecht Europas. Seit dem 8. Jahrhundert urkundlich nachgewiesen, erreichte die Dynastie einen ersten Machthöhepunkt im Hochmittelalter im Heiligen Römischen Reich, als sie Herzöge von Bayern und Sachsen sowie als Konkurrenten der Staufer einen Kaiser stellten. In der Neuzeit standen die Welfen erneut im Zenit, als sie zu Kurfürsten und Königen von Hannover sowie zu Königen von Großbritannien und Irland aufstiegen. Derzeitiges Oberhaupt der Welfen ist Ernst August von Hannover, dessen einer der Vorfahren der Herzog von Celle, Georg Wilhelm war.

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Celle - NiedersachsenCelle - NiedersachsenAber was wurde aus dem Haus und Oberhaupt dieses alten Hochadelgeschlecht? Die Presse sprach vom berühmt berüchtigten „Prügelprinz“, auch „Prügelaugust“ genannt, der sich im Jahr 2000 anlässlich seines Besuches auf der Expo am türkischen Pavillion erleichtert und dabei hatte fotografieren lassen, schrieb solcherart Schlagzeilen, die sich mehrten, nachdem er am 23. Januar 1999 Caroline von Monaco aus dem Hause Grimaldi geheiratet hatte. Mit Pinkel-, Prügel- und Sexgeschichten aber macht man keine Geschichte, eher schreibt man eine der Peinlichkeiten, wozu eine ganze Reihe von Ausrastern Exzesse und Pöbeleien genauso zählten wie  der Verkauf von Schloss Marienburg durch den Sohn nach unwürdigen öffentlichen Streitereien ums Erbe an die öffentliche Hand, die Liemak Liemak Immobilien GmbH, eine Tochter der Klosterkammer Hannover, die die äußerlich prächtig anmutende, aber im Innern völlig verrottete Sommerresidenz der Welfen nun mit Steuergeldern retten muss.

Kürzer, aber genauso dramatisch ist die Geschichte  des Rudolf Karstadt, der im September 1929  ein ab 1927 neu errichtetes, monumentales Karstadt-Warenhaus an der Poststraße inmitten der Fachwerkaltstadt eröffnete, welches in seiner Fassadengestaltung ähnlich war mit dem Karstadt-Warenhaus am Berliner Hermannplatz. Die Celler Karstadt-Filiale wurde 1965 abgebrochen und durch einen flächenmäßig noch größeren, umstrittenen Kaufhausneubau nach einem Entwurf von Walter Brune ersetzt. Heute steht dort ein Baumarkt.

Während des Zweiten Weltkriegs erlitt die Stadt Celle im Verhältnis zu anderen deutschen Städten nur sehr geringen Sachschaden. Am 22. Februar 1945 und kurz vor Kriegsende am 8. April 1945, als aber jeder schon wusste, dass der Krieg verloren war, kam es zu den beiden einzigen alliierten Luftangriffen auf Celle, bei denen die Bahnhofsanlagen das Ziel waren. Altstadt und Schloss aber blieben unzerstört. Beim zweiten Angriff wurden mehrere wartende Züge, in denen sich auch etwa 4000 KZ-Häftlinge befanden, schwer getroffen. Hunderte Menschen kamen dabei ums Leben. Einem Teil der KZ-Insassen aus den Zügen gelang die Flucht ins nahe Neustädter Holz, jedoch erschossen SS-Wachmannschaften und Celler Bürger in den darauf folgenden zwei Tagen einen Großteil der Flüchtlinge. Die Opferzahl wird mit mindestens 170 Personen angenommen. Das Massaker von Celle, von den Tätern zynisch „Celler Hasenjagd“ genannt, stellt das dunkelste Kapitel der Celler Stadtgeschichte dar.

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Dieselben „Bürger“ der Stadt, die noch wenige Tage vor der Kapitulation auf „Hasenjagd“ gegangen waren, verhinderten eine größere Zerstörung der Stadt dadurch, dass sie die Stadt am 12. April 1945 ohne Widerstand den alliierten Truppen übergaben; zur Heldenstadt oder Stadt der Einsicht hat es auch nicht gereicht.

Celle ließ nie nach, Bedeutung zu finden in der Geschichte. Ein geradezu glorreiche Idee hätte es werden können, hätte sie nur geklappt, die Bewerbung Celles neben Bonn und Frankfurt am Main sowie einigen anderen Städten als Sitz für den Parlamentarischen Rat der neuen Bundesrepublik Deutschland. Die Wahl viel bekanntlich auf Bonn.

Zur Vorbereitung zum Start des Farbfernsehens nach dem PAL-System in der Bundesrepublik Deutschland im August 1967 baute Telefunken im Celler Ortsteil Klein Hehlen ab 1964 ein neues Werk für die Herstellung von Farbfernsehempfängern, das im Mai 1966 seinen Betrieb aufnahm. In den 1970er Jahren waren bei dem damals größten Arbeitgeber der Stadt bis zu 2.800 Menschen beschäftigt, aber jene aus den Chefetagen waren nicht sonderlich mit Weitsicht und Management-Talenten begabt und so wechselten das Unternehmen 1984 zum französischen Konzern Thomson-Brandt und wurde 1997 geschlossen. Übrig geblieben war mal wieder nichts Bedeutsames für die Geschichte.

Und was ist heute? Kommen Sie nach Celle und es wird Ihnen angenehm auffallen, dass sich hier Ihrem Aufenthalt keine modernen Shoppingmalls aus Glas und Beton in den Weg stellen. Was Ihren Weg durch die Altstadt begleitet ist Fachwerk, Fachwerk und nochmal Fachwerk. Ihr Shopping-Erlebnis erwartet Sie in zahllosen kleinen Boutiquen und Geschäften, natürlich untergebracht in Fachwerk. Und zwischen den Zeilen der Fachwerhäuser versucht die Stadt Ihnen Geschichten zu erzählen von einst wohlhabenden Händlern, von Herzögen, Prinzen (eher stickum) und Königen (denen aus England und Irland) und zu fortgeschrittener Stunde am Tresen auch von so manchem Halunken, der seine Spuren hier hinterlassen hat; und die gehören wirklich zur Geschichte der Stadt.

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