Venedig – Acqua Alta

Stiefel, nicht Stiefeletten

Nasse Füße an San Marco.

Italien - Vendig - Acqua alta

Erst kam der Tourismus, dann der Klimawandel, danach die Kreuzfahrtschiffe und nun alle zusammen. Nüchtern klingt das, was sie alle zusammen angerichtet haben so: Acqua alta (italienisch für hohes Wasser) ist das jährliche winterliche Hochwasser in Venedig. Es entsteht, wenn bei besonders starker Flut und niedrigem Luftdruck der Scirocco das Wasser landeinwärts in die Lagune von Venedig drückt. Von den Gezeiten abhängend, dauert es mehrere Stunden an.
Bei normaler Flut steigt der Wasserspiegel bis zu 90 cm über den Normalstand. Dabei kommt es zu keinen Überschwemmungen. Wenn er höher steigt, ist „Acqua alta“. Die „Acqua-alta“-Saison geht typischerweise von September bis in den April, gelegentlich auch darüber hinaus. Um den November herum ist ihr Höhepunkt.

Acqua alta wird wie fast alles in Europa in Kategorien eingeteilt, je nach dem Wasserstand bemessen und unterschieden.

  • 100 cm: Nur geringe Teile der Stadt sind überschwemmt; am tiefstgelegenen Punkt der Stadt, dem Markusplatz, steht das Wasser dann etwa 20 cm hoch.
  • 110 cm: Alarm wird ausgerufen, etwa 10 % der Stadt stehen unter Wasser
  • 125 cm: Etwa die halbe Stadt ist vom Hochwasser betroffen
  • 140 cm: Notstand wird ausgerufen, 90 % der Stadt sind überschwemmt.

Dies ging so die ganzen Jahre und Jahrzehnte und Venedig hatte sich an den November mit nassen Füßen gewöhnt. Manchmal war es dann doch zuviel des Guten und die Stadt versank für ein paar Tage fast ganz in der Lagune, wie etwa am 4. November 1966 als der Rekordwasserstand von 194 cm fast ganz Venedig unter Wasser setzte. So blieb der November den Venzianern und die paar Malaisen für ein paar Tage oder Stunden waren es Wert, diese Ruhe in der Stadt, die einst ein ganz normales, alltägliches Leben führte, als noch überwiegend Venezianer in der Stadt wohnten, es noch Alimentari und Bars gab, wo man nach der Arbeit sich traf, miteinander sprach, die neuesten Erlasse und Gesetze der dort in Rom leidenschaftlich diskutierte, um sie hernach in Bausch und Bogen abzulehnen.

Manchmal kam ein Paar in die Stadt, um sich zu vermählen, manchmal kamen ein paar Lehrer und andere Rentner, um sich mit den Palazzi, der Geschichte und den künstlerischen Exponaten zu beschäftigen, meistens verbunden mit einem Besuch musikalischer Darbietungen, die es hier so zahlreich gab. In der Kulturgeschichte Europas spielte Musik aus Venedig seit dem 16. Jahrhundert bis zum Ende der Republik eine ganz herausragende Rolle; von vielen bereits vergessen.

Von Venedig gingen ab dem 16. Jahrhundert mit der Venezianischen Mehrchörigkeit entscheidende Impulse für Innovationen in der Vokal- und Instrumentalmusik aus. Die sogenannte Venezianische Schule ist eng mit dem Namen Willaert, Claudio Monteverdi oder Andrea und Giovanni Gabrieli, alle Organisten am Markusdom, verknüpft.

Zentren des innerstädtischen Musiklebens waren seit Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Niedergang der Republik die vier großen Musikschulen, die berühmten Ospedali Grandi. Ihre Mädchenchöre und -orchester waren europaweit berühmt wegen ihrer hervorstechenden Qualität und schier grenzenlosen Virtuosität. Renommierte in- und ausländische Musiker waren an den Ospedali als Chorleiter, Gesangslehrer und Komponisten engagiert und führten neben geistlicher Musik im Rahmen der kirchlichen Liturgie auch Oratorien zu biblischen Themen auf. Ein eigenes Musikgenre bildeten die venezianischen Psalmenvertonungen, die Teil der sonntäglichen Vesper waren.

Dann kam Glanz und Grandezza in die Stadt. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts begann in Venedig die Blütezeit der Oper. An den rund zwanzig Opernhäusern der Stadt – welche Großstadt der Welt könnte dies heute aufweisen – wurde eine verblüffend hohe Zahl von Opern uraufgeführt, darunter viele Werke Vivaldis, Galuppis, Cimarosas und Hasses. Bis ins 19. Jahrhundert war Venedig neben Mailand und Neapel einer der drei wichtigsten Orte für die Uraufführung der Opern von Verdi, Donizetti oder Bellini.

Italien - Vendig - Acqua alta

Nun ist sie dahin die Zeit der Grandezza, der großen Opernaufführungen, der altehrwürdigen venezianischen Familien, die sich dort in Pracht und Prunk zeigten und alles ist ein wenig zum billigen Karnevalsklamauk für Touristen verkommen. Venezianer sind längst schon weggezogen und haben das Terrain den Hotelketten und Touristenströmen aus der ganzen Welt geräumt. Was geblieben ist, sind die Acque alte, nun in der Mehrzahl alljährlich zum Novembermonat erscheinend wie z.B. im Jahr 2019, als der Magistrat der Stadt gleich fünfmal den Notstand ausrufen musste.

  • 187 cm am 12. November 2019
  • 154 cm am 15. November 2019
  • 150 cm am 17. November 2019
  • 144 cm am 13. November 2019
  • 144 cm am 23. Dezember 2019

Im wahrsten Sinne des Wortes geht eine der schönsten Sädte Europas unter, versinkt in den Fluten, aus denen sie einst heraus mit nie dagewesenem Stolz gleichsam wie Aphrodite aus den schäumenden Wellen der Ägäis vor Zypern entstiegen ist.

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Ein gigantisches Flutwehr soll die Lagunenstadt nun vor Hochwasser schützen. Doch ein Korruptionsskandal nach dem anderen entsteigt diesem technischen Monster, Fehlplanung zur Höhe wie Fehleinschätzung der Umweltschäden und besonders der Schäden in der Lagunge selbst gefährdeen das Milliardenprojekt, an dem nur eins mal wieder sicher zu sein scheint: die Stadt wird wohl kaum damit geschützt, aber einigen einflussreichen Italienern klingeln wohl wieder hörbar die Kassen, die nicht zuletzt mit Zuschüssen aus Brüssel gefüllt werden; Acqua in bocca!

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