Venezuela – Colonia Tovar - Seite 2

Deutsche Enklave im Regenwald.

Abgrund T. Braaven

Aber diese Menschen, die männlichen Bewohner hier sahen fast alle gleich aus, nicht von Statur, da gab es Unterschiede, aber die Gesichter, ihre Gesichter waren von den hundertjährigen inzestuösen Beziehungen, die sie untereinander unterhalten hatten, schwer gezeichnet.

Augustin Codazzi, der Geograph, saß gerade tief versunken in seine Arbeit an einem neuen Atlas über Venezuela, als Alexander Benitez den Raum betrat:

„Ich habe dir einige neue Kupferstechereien mitgebracht“ und legte sie vor Augustin auf den Tisch. Sie zeigte den Westen des Landes, den Maracaibo See und die sanften Ausläufer der kolumbianischen Anden mit der Stadt Merida, einem Kleinod lateinamerikanischer Kultur und zukünftige Universitätsstadt.

„Olà, Alexander“ kam es zurück „ich warte schon darauf, wo bleibst du denn“ fragte er ungeduldig den Ankömmling, lächelte und verzog etwas sein Gesicht, um nicht missverstanden zu werden? „Du glaubst es nicht, wen ich neulich getroffen habe.“

„Sag schon, wen. Lass mich nicht raten, ich mag nicht raten,“ forderte Alexander.

„Ich hatte eine Audienz bei unserem Stiernacken“, kam die sichtlich zufriedene, etwas zur Schau gestellte Antwort.

„Bei wem?“ Benitez schrie diese Frage fast heraus und wischte mit seiner Hand so stark und ausladend über den Tisch an seinen Kopf, dass ein paar Blätter des Atlasses herunterflogen und nun auf dem Boden lagen. Augustin erhob sich, nahm die Blätter auf und zelebrierte wie sein Präsident:

„Du hast richtig gehört, bei José Antonio Páez höchst selbst war ich eingeladen.“

Alexander blickte mit etwas schräg geneigtem Kopf hinüber zu seinem Freund und Ko-Autor, der, ohne Zögern und Umschweife weiter ausführte:

„Unser Land, du weißt, ist krank“ er hob dabei seinen rechten Arm mit den aufgelesenen Blättern ausgestreckt in die Höhe, als wollte er seine Anklage gleich zu Beginn seiner Ausführungen mit einem Bündel an Beweisen für deren Richtigkeit belegen.

„Unser Volk leidet an einer der schlimmsten Pockenepidemien seiner Geschichte. Unser großer Befreiungskrieg ist noch nicht zu Ende und wir müssen uns auf noch mehr Opfer, auf noch mehr Leiden unter unseren Brüdern und Schwestern gefasst machen.“

Augustin Codazzi schwenkte das Papierbündel wie eine bedrohliche Waffe weiter in Richtung Alexander und hob noch einmal seine Stimme, als er weiter ausführte:

„Wir alle sind auf das äußerste gefordert, unserem Helden und Befreier Simon Bolivar beizuspringen und unseren vaterländischen Pflichten zu genügen.“

Alexander Benitez erstarrte fast in Erfurcht, während Augustin mit glühenden Augen ihn erfasste und mit neuerlichem Schwall bearbeitete:

„Und deshalb, um unserem Land und geplagtem Volk zu helfen, hat mich der Präsident um Hilfe gebeten.“

„So schlimm ist es“, fragte Alexander?

„Schlimmer. Noch viel schlimmer“, kam es aus der erhobenen Brust des Geographen, während der sich umdrehte und sich an das Fenster stellte und eine geraume Zeit hinausblickte, ohne ein Wort zu sagen oder sich umzudrehen. Draußen fuhren ein paar, von ausgemergelten Pferden gezogene, hoch bepackt mit in Tüchern gewickelten und mit Kalk bestreuten Seuchenopfern beladene Karren vorbei, auf denen pockeninfizierte Männer oder Frauen, ja sogar Kinder die Bergung und den Leichentransport gegen den Lohn von zwei mal täglicher Verpflegung unterhielten. Die Straße vor dem Haus war nur schwach beleuchtet, aber das tat nichts besonderes zu der in ganz Caracas derzeit herrschenden, gespenstischen Stimmung hinzu.

„Unser Volk wird von Kriegen und Krankheiten so sehr dezimiert werden, dass es ein wehrloser Spielball aller möglichen Mächte um uns herum werden wird“, malte Augustin weiter an seiner venezolanischen Apokalypse „obwohl wir einst siegreich in die Geschichte eingehen werden, ist es jetzt unsere Verpflichtung gegenüber unserem Land, seine Wehrhaftigkeit und seinen Wohlstand zu mehren.“ Augustin sank erschöpft in seinen Sessel, wischte sich über die Stirn wie ein Straßenbauarbeiter in der schwülen Mittagshitze und blickte gespannt auf sein Gegenüber. Alexander Benitez mag nicht sonderlich intelligent ausgesehen haben, war er doch eher verdutzt und förmlich überrumpelt von der Rede seines Freundes, der dies bemerkte und so, als sei es die hinreichend logische Konsequenz seiner Ansprache fortsetzte:

„Wir brauchen Menschen. Aus Übersee, verstehst du? Aus deiner ehemaligen Heimat.“

Benitez betrachtete ihn wie einen Mann, dem gerade seine Sinne abhanden gekommen waren.

„Und du wirst sie holen. Du segelst in deine Heimat und bringst so viele Menschen von dort mit zu uns nach Venezuela, wie möglich. Du organisiert die Formalitäten und ich übernehme die Schiffspassagen von hier aus. Ist das nicht eine geniale Idee?“

Alexander war sprachlos. Er neigte sich seinem letzten Blatt des Atlasses zu und wollte gerade beginnen, darin weiterzuarbeiten, als Augustin, der nach dieser kurzen Pause wieder zu Kräften gekommen war, aus seinem Sessel wieder aufsprang und mit noch wilderer Entschlossenheit und raumgreifenden Gesten seine Rede wieder aufnahm mit den Worten:

„Unser Präsident, der ehrwürdige José Antonio Páez, hat mir selbst sein Vertrauen und die Hoffnung des ganzen Landes in das Gelingen dieser großen nationalen Tat ausgedrückt. Deshalb, auf, mein lieber Freund, lass uns der Nation zur Seite stehen. Das ist ein großer Tag für unsere Familien.“

Nach diesem Zitat der großen Sache, war es Alexander Benitez unmöglich, auch nur den leisesten Zweifel daran zu äußern und außerdem war ihm schwindelig und er fühlte sich erschöpft. Augustin erläuterte ihm noch mit schwellender Leidenschaft im Duktus einige anstehende Details und Alexander bemerkte, wie sich seine Erschöpfung langsam aber zunehmend in nationalen Stolz und persönlichen Ehrgeiz verwandelte. Der Abend war noch nicht zu Ende und Alexander war ein glühender Protagonist dieser Idee geworden, die er nun gedachte, mit all’ seiner Kraft und Begeisterung in die Tat umzusetzen. Und so geschah es auch.

„Jokili, bisch in Brunne gheit – i hab di here plumps. Jokili kumm, Kokili kumm“, soufflierte Maria, die der brennenden Liebe zu einem Tovarer wegen vor vierzig Jahren aus dem Kaiserstuhl hier herüber in die Colonia gekommen war und heute mit ihrem Mann das Hotel Freiburg leitete, mit leiser Stimme dem Zeremonienmeister.

Es gab nicht mehr viele, die die alte Sprache der Einwanderer aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch sprachen, dieses alte Alemán Coloniero, der Dialecto Coloniero, wie man es heute in einer gewissen sachlichen Neutralität bezeichnet. Doch letztlich war es eine traurige Geschichte, die die Deutschen nach fast hundertjähriger Abgeschiedenheit und kulturellen Autonomie ereilte.

Nach ihrer Entdeckung traf sie das Dekret, wonach ab sofort das venezolanische Schulsystem einzuführen war, mit dem Verbot des Alemannischen auf dem Schulgelände, unter Androhung von Schlägen auf die Hände bei nur der leisesten Nichteinhaltung oder Verletzung. Zur kongenialen Begründung gaben die damaligen, revolutionären Machthaber an, es handele sich nicht um die deutsche Sprache, die hier gesprochen und praktiziert werde, sondern um das unschöne, raue Patuá, das eine Kreolsprache, basierend auf dem Portugiesischem sei. Und damit wolle der ruhmreiche venezolanische Staat nichts zu tun haben.

Und wieder rief Maria nun aber lauter in die Menge auf dem zentralen Dorfplatz mit dem Brunnen in der Mitte, da der Zeremonienmeister, der in Vertretung des alten Muttach, Nachkomme einer der ältesten Familien der Colonia, aus Scham für seine schlechte Aussprache es nun der Maria gänzlich überlassen hatte:

„Jokili, bisch in Brunne gheit – i hab di here plumps. Jokili kumm, Kokili kumm“ und bald erklang vielstimmig das finale Jokili kumm voller Inbrunst aus den Kehlen aller Versammelten, woraufhin nicht nur der Jokili dem Brunnen langsam, feierlich und würdevoll entstieg, sondern die gesamten anwesenden Karnevalsnarren, die zuvor weiß gekleidet und mit Kochdeckeln und Löffeln krach schlagend zwei Stunden durch die Straßen Tovars gezogen waren, zu tanzen begannen.

„So war das früher“, sagte die Maria zu Jorge gewandt, während die alemannische Fastnacht unter subtropischem Himmel in ein rauschendes Fest von urwüchsigem Brauchtum überging.

„Als unsere Leut’, damals, geführt von dem Alexander Beitez, hier ankamen, haben sie sich alle in die Hände geschworen, ihre Heimat nie zu vergessen. Denn deine Leute hatten sie betrogen. Blattern hatten sie und mussten dreißig Tag in Quarantäne auf dem Schiff ausharren. Zwölfe starben an den Strapazen und den Krankheiten. Und nix war es mit dem Versprochenen.“

Maria zog den Jorge in das Hotel und brachte ihm eine frische Schlachtplatte aus drallen, feuchten Blut-, Leberwürsten und Bauchspeck, die Jorge mit großen Augen ansah, als lägen dort die Leichname der zwölf Verstorbenen und hielt ihn an, doch zuzugreifen, so ein schöner, aber ein wenig dünn geratener Mann.

„Sie kamen aus dem Schwarzwald über Straßburg nach Le Havre, wo sie im Januar 1843 einschifften und nach mehr als zwei Monaten im März in Choroní landeten. Dann ging es einen beschwerlichen und zumeist unbefestigten Weg zu Fuß weiter über Maracay und La Victoria, bis sie hier in 1800 Metern Höhe ihr lobgepriesenes Land das erste Mal sahen. Was hatte man ihnen versprochen: „Ihr werdet in Häusern untergebracht, die bei eurer Anreise bereits fertig auf euch warten werden“, hatte Benitez deklamiert.

„Aber nichts war es damit, nicht mal ein viertel der Häuser waren fertig. Und keine Straße hat es gegeben, alles war bedeckt von Bergurwald“, fuhr Maria fort und legte dem armen Jorge, der diese Frau liebte, aber an ihrem Essen schier würgte, stetig von der Platte nach.

„Und denen, die gleich weg wollten aus dieser Hölle, hatte der nur auf seinen persönlichen Vorteil bedachte Codazzi gleich per polizeilichem Erlass das Verlassen der Colonia unter höchster Strafe verbieten lassen, dieser Fötzel und Huerebock.“ Jorge musste sich übergeben.

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