Delphi - Seite 2

Die Frage aller Fragen

„Erkenne dich selbst“ – „nichts im Übermaß“ Teil II.

Griechenland - DelphiGriechenland - DelphiGriechenland - Delphi

Dem Mythos zufolge prophezeite das Orakel von Delphi dem König von Theben, Laios, dass sein Sohn ihn dereinst töten und seine Frau heiraten werde. Darauf ließ er dem Neugeborenen die Füße durchstechen und zusammenbinden und ihn von einem Hirten im Gebirge aussetzen. Doch der Hirte übergab das verstoßene Kind dem Königspaar von Korinth, welches es adoptierte und nach seinen geschwollenen Füßen Ödipus nannte. So wuchs Ödipus in Korinth auf, ohne von seiner Herkunft zu wissen. Als ihm ein Orakel verkündete, dass er seinen Vater töten werde, verließ er aus Sorge um seinen vermeintlich biologischen Vater Korinth und machte sich auf den Weg nach Theben.

Unterwegs begegnete er an einer Wegekreuzung dem mit kleinem Gefolge reisenden Laios; dieser hielt Ödipus für einen Räuber und wollte ihn nicht durchlassen, woraufhin Ödipus ihn und die meisten seiner Gefolgsleute erschlug. Somit erfüllte sich eine der zwei Prophezeiungen. Anschließend gelang es Ödipus, das Rätsel der Sphinx zu lösen und so Theben von der Sphinx zu befreien. Zur Belohnung wurde er als Nachfolger des Laios zum König von Theben ernannt und bekam Iokaste, seine Mutter, zur Frau. Somit erfüllte sich die zweite Prophezeiung.

Von ihrer Verwandtschaft nicht wissend, hatten die beiden in der Folgezeit vier Kinder miteinander. Als nach einigen glücklichen Jahren in Theben eine Seuche ausbrach, verkündete das Orakel von Delphi, der Mörder des Laios müsse gefunden werden. Ödipus untersuchte den Fall und fand heraus, dass er selbst der gesuchte Mörder war und seine eigene Mutter geheiratet hatte. Darauf erhängte sich Iokaste und Ödipus blendete sich.

Das Orakel wurde wie in den Fällen von Ödipus, Krösus und Alexander dem Großen eindrucksvoll belegt, selbst zu einem Orakel, Delphi wurde geradezu zum politischen Problemfall, so dass der christliche Kaiser Theodosius I. nur allzu gerne im Jahr 391 n. Chr. alle Orakelstätten durch ein Edikt aufhob; das Ende des Delphischen Orakel war scheinbar besiegelt. Aber wie wir eben vermerkten, blieb Dephi bis heute ein wichtiger Bestandtteil des Denkens im modernen Europa, sowohl die Rätsel der Marmaria (Naturwissenschaft) wie die des Geistes blieben uns bis heute erhalten.

Griechenland - DelphiMit Freud begab sich das moderne Denken in die Tiefen der Innenwelt, die fortan als Zugang zum Verständnis und zu Problemlösung in der Außenwelt dienten. Hatte Descartes mit seiner Unterscheidung von res cogitans (Geist) und res extensa (Natur) noch den Weg der Vermittlung zwischen beiden in der Vernunft gesucht, so folgte Freud dem delphischen Weg über die Traumdeutung ins Unbewusste.

Die Traumdeutung wurde zum „Königsweg“ des „Erkenne dich selbst“ und die Architektur der Seele weicht kaum ab von der der „Heiligen Straße“ in Delphi. In den Schatzhäusern der Leidenschaften, von Eros und Thanatos, fand Freud die Gründe für die Neurosen des modernen Menschen und Schlimmeres.

Ödipus beherrschte den Tempel und der Traum sprach wie die Pythia aus den Tiefen und Abgründen des menschlichen Daseins. Verschlossen in den Bereichen der Seele lagern die triebhaften Verfehlungen und barbarischen Episoden menschlicher Phantasien, spuken in Träumen an eine Oberfläche, die der psychoanalytisch Kundige fortan zu deuten in der Lage sein sollte zur Gesundung von Leib und Seele wie zu einem gemäßtigten Leben in zivilisierter Kultur fähig.

Medèn ágan: „Nichts im Übermaß“, „Alles in Maßen“ wurde bei Freud zur kulturschaffenden, zivilisatorischen Sublimation triebhafter, wilder menschlicher Naturhaftigkeit, Gewalt und Barbarei und ging den Weg zurück zur antiken Vorstellung über das „rechte Maß“ als Grundfigur – Nietzsche hätte gesagt, des antiken apollinischen Denkens – der platonischen Seinslehre wie der aristotelischen Tugendethik, einer Art ziviler und kultureller Bescheidenheitslehre, die sogleich auch die Harmonienlehre der Musik, die Einheitsgleichungen der Mathematik bis hin zu der medizinischen Vorstellung einer gesunden Harmonie zwischen Körper und Geist, mens sana in corpore sano, beeinflussten, und heute fast alle Bereiche des geistigen und sozialen Lebens bestimmen.

Griechenland - Delphi

Griechenland - DelphiIn der Renaissance entdeckten die Europäer dieses antike Denken wieder und machten die Inschriften an einer der Säulen der Vorhalle des Apollontempels zu den Säulen des modernen Denkens. Das „Gnothi seauton“, dessen erster schriftlicher Beleg sich in einem Fragment des Philosophen Heraklit befindet: „Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken“, aber war und ist das große Rätsel der Pythia geblieben und heute zum großen Rätsel von Wissen und Kommunikation aufgestiegen.
Sich selbst erkennen wird zunehmend schwieriger in einer komplexer werdenden Welt und verständig zu denken, also so, dass ein anderer versteht, was ich denke, indem ich es sage, gebiert mehr Ungeheuer des Un- und des Missverständnisses als Goyas Schlaf der Vernunft.

Die vielzähligen schriftlichen Überlieferungen lassen uns weiter rätseln über den Sinn der Delphischen Weisheiten und so lesen wir beginnend im Phaidros von Platon und diskutieren mit Sokrates im Symposion von Platon über die vielfältigen Auslegungsarten und kommen wahrscheinlich eher nicht-wissend aus dem Ganzen heraus als aufgeklärt und gewiss unserer selbst.

Zumal es scheint, als gäbe es zu den beiden Weisheiten noch eine dritte, nach einer Überlieferung des Charmides sowie dem etwa 500 Jahre jüngeren Bericht Plutarchs zu diesen beiden Weisheiten, die, man weiß es wiederum nicht gewiss, die Säule kurz und knapp zierte mit: „Du bist“ (eî). Während später der eher selbstreflexive Teil von „gnôthi seautón“ in den Vordergrund trat, war gnôthi seautón im Ursprung möglicherweise als Begrüßungswort des Apollon an die Besucher gedacht. Plutarch schreibt dazu: „Beim Eintreten spricht der Gott sozusagen jeden von uns mit seinem ,Erkenne dich selbst‘ an, was zumindest so gut ist wie ,Heil!‘.“ Als Antwort darauf erwiderte der Besucher dem Gott „Du bist“: „Wir antworten dem Gott mit ,eî‘ [„Du bist“], indem wir ihm die Benennung übertragen, die wahr ist und in sich keine Lüge birgt und zu ihm allein gehört und zu keinem anderen, nämlich die des Seins […]“

Nur „Gott“ also, nicht der Mensch könne erkennen, was wahr ist und was falsch, das Ganze des Seins und damit auch sich selbst und so huldigt die Moderne auch zugleich der Wissenschaft wie der Göttlichkeit, blühen wissenschaftliche Wahrheit, Selbstgewissheit und Verschwörungstheorien rätselhaft auf dem gleichen Terrain, dem apollinischen Geist des Nihilismus. Hat er also doch recht? Nietzsche würde behaupten: meine Analyse war richtig. Denn, ohne es zu merken, begrüßt jeder mit dem ‚eî‘ – ‚Du bist‘ – die Göttlichkeit, richtet sich mit seinen Frage nach dem Sein, nach der Wahrheit (der Schönheit, des Guten) und sich selbst an den alten Gott Apollon, also an etwas, was dem Gott oder der Göttlichkeit im Allgemeinen zu ihm allein gehört und zu keinem anderen.

So wandert er, König Ödipus, fortan geblendet über den Erdball, geführt von einer liebenden Tochter Antigone, und sieht die Welt nicht mehr, nurmehr sich selbst in unendlicher Selbstreflexion. So war auch das moderne „sapere aude“ – erkenne dich selbst – des Königsberger Philosophen Kant noch eine Huldigung des antiken Rätsels und bleibt das ewige Orakel der Versöhnung der Menschen mit sich und untereinander in ihrer Welt, die eindeutig auf dem Spiel steht und niemand heute weiß, wie das zu stoppen ist. Das Ende der Götter dämmert herauf. Und das Rätsel, wie es weitergehen soll, bleibt unbeantwortet.

Über Rieder

Oberbayer

Zeige alle Beiträge von Rieder

Ein Kommentar

Ihr Kommentar

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * markiert.