München-Venedig - Seite 3

Zu Fuß über die Alpen

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenMünchen-Venedig, zu Fuß über die AlpenMit der Lizum Walchen haben wir das Gebiet des Alpenhauptkamms betreten. Eine ziemlich einsame Ecke um diese Jahreszeit. Es gibt noch eine Menge Restschnee, aber zum Glück präsentiert sich das Wetter am nächsten Morgen wieder von seiner besten Seite.

Am 10. Tag verlasse ich die Hütte und mache mich auf zur Geierscharte. Wenn man sie einmal überschritten hat, hat man wieder einen dieser grandiosen Ausblicke. Diesmal auf den Alpenhauptkamm mit dem Olperer im Hintergrund und, was ganz herrlich aussieht, mit dem Junssee im Vordergrund, wo, wenn es in der Wirklichkeit Märchengestalten gäbe, sich Feen baden würden, falls ihnen das Wasser nicht doch entschieden zu kalt wäre. Oberidylle für Städter, die nicht wie früher die Bauern ihre Erzeugnisse über diese alljährlich abrutschenden Wege schleppen müssen, sondern einfach nur genießen.

Jenseits des Junsees bekomme ich Arbeit. Es ist hier nicht leicht, im Restschnee den richtigen Weg zu finden.

Ich erinnere mich: Wenn du nicht weißt, wo es lang geht, folge der Schafskacke. Was ein Schaf trägt, trägt auch einen Menschen. An dem Satz scheint was dran zu sein.

Nach Stunden ist klar, dass ich wieder auf dem richtigen Weg bin. Ein Bachtal öffnet sich und ich stehe mit einem Mal vor dem Wasserfall im Weitenbachtal. Wieder einer dieser unvergesslichen Plätze. Rast findet man dann im Tuxerjochhaus mit herrlichem Blick zum Olperer hinüber. Zu erledigen sind wie immer die Abendpflichten. Man hat zwei Hosen, zwei paar Socken und zwei Hemden, sodass jeden Abend eins davon zu waschen ist.

München Venedig, zu Fuß über die AlpenMorgen kommt die höchste Stelle der Alpenüberquerung, die knapp 3000 Meter hohe Friesenbergscharte. (Höchster Punkt, wenn man vom Piz Boe in den Dolomiten absieht, zu dem man unterwegs leicht aufsteigen kann, aber nicht muss. Der gilt als leichtester 3000er der Dolomiten.)

Die Friesenbergscharte verfügt über ein kurzes Stück drahtgesicherten Klettersteigs, für den ein Klettersteigset empfohlen wird. Wie man es richtig anlegt, habe ich, der alte Stadtbewohner, zu Hause geübt. Hoffentlich klappt es.

Tag 11 beginnt also auf schwankenden Brücken hinter dem Spannagelhaus auf unserem Weg zur Friesenbergscharte, die uns ihre ausgesprochen unwirtlichen, schneebedeckten Flanken durch feinen Dunst bedrohlich zeigt. Der Aufstieg durch Schnee erweist sich als schwieriger als der spätere steile, aber abgesicherte Abstieg.

Kleine Wetterunterschiede können viel ausmachen. Da sage ich Leuten, die mit den Bergen vertraut sind, sicher nichts Neues. Ich als allein gehender Städter hatte das natürlich auch immer schon gelesen, aber als Erfahrung war es mir neu.
Schön finde ich am München-Venedig-Weg: So einsam es mitunter ist, so schnell finden sich Leute zusammen, wenn es schwierig wird.

Unten zeigt sich der Friesenbergsee, wieder einer dieser schönen Bergseen wie gestern der Junssee. Das Wetter beginnt wieder etwas freundlicher zu werden. Oder ist das mein Wunschdenken?
Tief unten zeigt sich die Talsperre Schlegeisspeicher, als wir den sogenannten Berliner Höhenweg zur Olpererhütte hinaufsteigen. Der Weg wirkt, als hätten ihn Riesen gepflastert. Man springt fast von einem auf den nächsten Stein. Das sind keine normalen Schrittlängen.

Endlich in der Hütte geht ein langer Tag mit Budenzauber einer Reihe von Jugendlichen zu ende. Wir singen und spielen Gitarre.
In der Nähe hat es auf dem Weiterweg vor kurzer Zeit einen Unfalltoten gegeben. Aber darüber spricht der Hüttenwirt nicht gern.
Nebenbei bemerkt habe ich bis jetzt schon eine Menge interessante Leute unterwegs im Zug nach München und unterwegs auf den Hütten kennengelernt, den Prior der Franziskaner in Tirol, der gerade von einer EU-Konferenz aus Brüssel zurückkehrte, einen Unternehmer auf Selbstfindung, einen Chirurgen und Notfallmediziner mit seiner Frau (fand ich sehr praktisch, das waren meine beiden Hochzeitsreisenden) und einen Bischof der Zeugen Jehovas aus den Ruhrgebiet.

Am nächsten Morgen geht es runter zum München-Venedig, zu Fuß über die AlpenSchlegeisspeicher. Man stößt auf ein paar Touristenautos, aber sogleich geht es wieder weg von der Zivilisation Richtung Pfitscher Joch. Oben auf dem Joch quere ich die österreichisch-italienische Grenze. Wenn man unterwegs die Möglichkeit hat, bei Bauern einzukehren, sollte man das so oft wie möglich tun.

Die Lavitzalm war so ein Ort. Bis weit nach Südtirol hinein verstehen sich die Bauern auf leckeres frisches Brot, Käse, überhaupt auf tolle Milchprodukte und Limonaden. Ja, Limonaden! Auf Basis selbstgemachter Obst- oder Holunderblütensäfte.

München-VenedigDas Pfitscher Joch Haus verläßt man Richtung Stein im Pfitschertal. Geschlafen habe ich diesmal nicht auf einer Hütte, sondern im Gasthof Stein bei einer wiederum talentierten Köchin. Ich glaube, es war Pasta mit Ragout, Rotwein und Süßspeise. Noch wusste ich es nicht, aber für den nächsten Tag braucht man viel frische Kraft.

Man kommt jetzt in den einsamsten Teil der Alpenüberquerung. Kurz nach Stein, noch nah am Tal musste man unangenehmerweise über ein paar Elektrozäune. Dann geht es Richtung Gliderscharte mit tollem Blick nach links auf den Hochfeiler. Man begegnet hier niemandem. Ein schlichtweg unbesuchter Teil der Alpen, obwohl sich vielleicht gerade einmal ein Dutzend Kilometer westlich die Brenner-Autobahn durch die Berge zieht. Die Gliderscharte liegt recht hoch auf fast 2700 Meter.

Für mich ist Inbegriff eines Bauernlebens, wie es anderswo vielleicht von zweihundert Jahren stattgefunden haben mag, die obere Engbergalm. Aber ein altes Moped hatte der Bauer schon, der hier in aller sommerlichen Abgeschiedenheit seinen Käse machte und eine Sprache sprach, die weder deutsch noch italienisch klang.

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenVon hier wurde der Weg leicht, denn es ging den Rest des Tages nur noch bergab nach Pfunders und von dort am nächsten Morgen weiter bergab bis hinunter nach Vintl im Rienztal, einem Ort, in dem viele Südtilol-Touristen durchkommen, per Auto oder Bahn, ob sie da halten oder nicht.

Hier heißt es durchatmen, denn von hier geht es wieder viele hundert Höhenmeter rauf durch den Rodenecker Wald. Es war ein herrlicher, zum Wandern vielleicht schon etwas zu warmer Tag.

Oben öffnet sich der Wald auf das weite Plateau der Lüsener Alm und gibt Gelegenheit zur Pause auf der Ronerhütte. Nach so vielen Tagen Wanderung kommt man in einen Super-Zustand, der mir als Städter bislang ziemlich unbekannt war, den Zustand einer extrem angenehmen Selbstverständlichkeit von Bewegung, den Zustand einer schwitzenden Mischung aus Müdigkeit und Selbstüberschätzung.

In diesem Zustand wandelte ich also die Lüsener Alm entlang und sah sozusagen aus der ersten Reihe einem mächtigen Gewitter zu, das irgendwo im Hintergrund langsam aufzog, bis nach einer halben Stunde mehr als deutlich wurde, dass es genau auf mich zukam, und dies mit einer Geschwindigkeit, die jedes Ausweichen unmöglich machte und mir am Ende kaum noch erlaubte, in Deckung zu gehen. Also weg mit allem, was aus Metall ist und eine möglichst tief gelegene Mulde suchen.
Abgesehen davon, dass ich nach wenigen Minuten völlig durchnässt war, meinte es das Gewitter gut mit mir. Es war nur kurz und zog schnell weiter.

München-Venedig, zu Fuß über die AlpenEin echtes Highlight ist die Kreuzherrenhütte. In ihrer traditionellen Holzbauweise und dem Alter, das sie bereits auf dem Buckel hat, beeindruckt sie jeden Gast. Der Sohn des Hüttenwirts spielte ein gepflegtes Akkordeon mit der Lust, die man hat, wenn man vielleicht zehn Jahre alt ist und schon der beste im Ort. Wenn man nachts im Hüttenfederbett lag, konnte man jede Kuh riechen, die eine Etage tiefer im Stall stand. Eine wunderbare Hütte. Ich hoffe, sie bleibt uns erhalten.

Am nächsten Morgen war alles Unwetter verzogen, und uns trennte vom Tal eine dicke Wolkenschicht. Eben die Wolkenschicht, die man im Flugzeug nach ein paar Minuten unter sich lässt, wenn man an einem Tag mit Mistwetter startet.
In diesem Morgenlicht ging es über die Almen, die an die Lüsener Alm anschließen. Heute wurde es ein Vormittag ohne viel Steigungen. Man bleibt in der Höhe und schaut von oben auf die Täler. Es war wieder Wandern zum Abheben. Vor dem Würzjoch, auf dem man dann wieder den Autoverkehr quert, sieht man, wenn man nicht all zu naturverklärt guckt, ein paar von den Wunden, die der Wintersport den Bergen reißt. Man sollte alle Wintersportler dazu verdonnern, sich auch einmal im Sommerlicht anzusehen, was sie im Winter mit den Bergen machen.

Der Nachmittag stand nun ganz im Zeichen eines meiner Lieblingsberge, des Peitlerkofel. Warum gehört der Peitlerkofel zu meinen Lieblingsbergen? Ich weiß es nicht genau. Ich finde, das ist ein Berg, so wie ein Berg aussehen soll. Warum finde ich das? Von Gänseküken sagt man, dass sie dem wie ihrer Mama folgen, den sie zuerst sehen. In meiner kurzen Beziehungsgeschichte als wandernder Alpinist war der Peitlerkofel einfach der erste Berg, bei dem ich zu mir sagte: Auf den willst du also rauf? Du musst verrückt sein. Das war im letzten Jahr. Meine Beziehung zum Peitlerkofel hat also etwas infantil Erotisches, eine Mischung aus Prägung und Besteigen.

Oben, bald hinter der Peitlerscharte, kommt man zur etwas zu groß geratenen Schlüterhütte. Man ist jetzt in der Puez-Geisler Gruppe. Wenn das Wetter schön ist – und es war schön – ist hier auch jeder Blick schön. Die Dolomiten wirken dann wie Puppenstuben-Alpen. Kein Weg ist so weit wie in den Schweizer Bergen. Man überschreitet an einem Tag drei Pässe oder mehr. Alle Wege sind kurz. Es ist wie in Rom mit den Sehenswürdigkeiten, kaum hat man das Cafe an der Fontana di Trevi verlassen und ist ein oder zwei Straßen gegangen, schon ist man am Quirinalspalast. Die Sehenswürdigkeiten liegen nah beieinander. So ist das in den Dolomiten auch. Landschaftlich war für mich der Weg von der Schlüter-Hütte übers Kreuz-Joch durch die Puez-Geisler Gruppe über die Puez Hütte bis hinunter zum Grödner Joch der landschaftlich abwechslungsreichste und wahrscheinlich schönste Tag der ganzen Wanderung.

Ans Klettern kommt man an der Focella Nivea, bis man das gleichnamige Plateau erreicht hat; ein wenig unerwartet blieb diese Anstrengung. Ein wenig italienische Luft scheint dann an der Puezhütte von der Crespeina Hochfläche her herüber zu wehen. Der Eindruck trügt keineswegs, auch wenn es der eine oder andere Südtiroler nicht gerne hört. Venedig liegt irgendwie schon in der Luft, wenn man den Crespeina See passiert, der in diesem Jahr nicht all zu viel Wasser hatte, und sich an den Abstieg vom Cirjoch zum Grödnerjoch macht. Es ist das erste Mal, dass man die Schätzung für realistisch hält, dass Venedig erreichbar ist.
Auf dem Grödnerjoch zu übernachten ist Blödsinn. Die Hotels sind zu teuer und der Souvenirkrempel vor der Tür stört! Hätte ich doch besser bereits auf der Puezhütte übernachtet. Was hat mich eigentlich davon abgehalten?

Raubsaufender Gaul an der PuezhütteIch habe dort den straßenräuberischen Charakter der Haflinger Pferde kennengelernt. Der Hüttenwirt der Puez-Hütte besaß ein Pferd, das die Angewohnheit hatte, ständig bei den Gästen mitzuessen. Ich verfüge leider nur über die städtisch abstrakte Rücksicht vor der Mitkreatur und nicht über die erfahrungsgesättigte Fähigkeit, mir bei Pferden Respekt zu verschaffen.

Das blöde Vieh hat meinen Hütten-Cappuccino ausgesoffen und die Umsitzenden hat entweder ebenfalls selbst die städtische Lähmung erfasst oder sie haben sich totgelacht. Ich sage nur: Vorsicht vor Haflingern. Ich kenne von einer späteren Wanderung her einen Rastplatz im oberen Tchamintal am Rosengarten, wo die Viecher gleich herdenweise und aus bester Gewohnheit den Wanderern auflauern und sich über deren essbaren Rucksackinhalt hermachen.

Was ich allerdings auch von einer späteren Wanderung weiß: der schuldige Haflinger auf der Puez-Hütte hats nicht überlebt. Der Hüttenwirt musste ihn zum Abdecker bringen, weil er es mit dem Raubsaufen übertrieben hat.
Hätte mich also das Pferd nicht vor der gesamten Hüttenöffentlichkeit blamiert, wäre ich vielleicht zur Nacht auf der Puez-Hütte beblieben. So aber wurde es ein Hotel auf dem Grödnerjoch.

Bitte lesen Sie weiter auf Seite 4:

Ihr Kommentar

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * markiert.